Alemannisches Dialekthandbuch vom Kaiserstuhl und seiner Umgebung

Die Erhebung des Deutschen Sprachatlas um 1887

Um 1887 wurde an den Kaiserstuhlorten wie früher oder später auch überall sonst in Deutschland Dialektmaterial zum 'Deutschen Sprachatlas' (DSA) gesammelt. Dabei war an jeder Volksschule ein Fragebogen mit 40 hochdeutschen Sätzen in die Ortsmundart zu übersetzen. Der Verfasser hatte die Möglichkeit, diese in Marburg archivierten Unterlagen zu untersuchen. Mir lagen die Bögen von Breisach und von neunzehn Orten im und am Kaiserstuhl vor; das waren alle außer dem von Bötzingen.

'Füür' oder Fiir?

Unterschiede zum heutigen Dialekt waren am ehesten wieder im Lautlichen festzustellen, doch dürften die meisten Abweichungen auf Verschriftungsfehler zurückzuführen sein. So haben die Lehrer in neun von zwanzig Ortschaften für "Feuer" ein 'Füür', 'Füer' oder 'Für' notiert, in den anderen dagegen 'Fier' oder 'Fir'. 'Füür' wäre wieder eine Lautung, die im Markgräflerischen, überhaupt im Südalemannischen, zu Hause ist. Aber dieses angebliche Füür hat sich in keinem einzigen Dorf gehalten, wo doch sonst alte Formen in einzelnen Ortschaften oft ein zähes Nachleben haben. So findet sich auch 1901 in der Arbeit Dierbergers über die Sasbacher Mundart keine Bestätigung des 'Füer', 'Lüt' und 'hüt', das 1887 im Sasbacher Bogen stand, sondern Dierberger bezeugt 'fiir', 'lit', 'hít'.

Friedrich Maurer hat in seiner Arbeit 'Zur Sprachgeschichte des deutschen Südwestens' einige Karten veröffentlicht, die auf Material des Deutschen Sprachatlas beruhen. Seine Karte 'Feuer' zeigt, daß Fiir im ganzen Elsaß und vom Breisgau und der Ortenau bis an den Bodensee verbreitet ist. Während aber im Elsaß so gut wie keine Füür-Belege verzeichnet sind, sind im rechtsrheinischen Fiir-Gebiet, vom Rhein bis an den Bodensee, die Füür-Belege wie Sommersprossen gleichmäßig eingestreut. Es drängt sich die Vermutung auf, daß 'ü' eine badische Schreibtradition ist. Man schrieb es für die Lautstelle, die im Hochdeutschen durch 'eu' oder 'äu' ausgefüllt wird.

So tauchen nicht nur auf dem Sasbacher, sondern auch auf einigen weiteren Kaiserstühler Bögen 'Lüt' (Leute), 'hüt' (heute) und 'Hüser' (Häuser) auf. Da, wo ein ü tatsächlich hingehört, steht in manchen Bögen ein 'u': 'luter' (lauter), 'Hus' (Haus), 'brun' (braun), obwohl in den betreffenden Ortschaften lüder, Hüüs und brüün gesagt wird - heute wie wohl auch damals schon.

Diese Abweichungen lassen sich übrigens nicht durch die Herkunft der Lehrer erklären: Ein 'ü' in Fiir schreiben nicht nur drei der sechs Lehrer, die aus dem Markgräflerland und vom Hochrhein stammen, sonden auch zwei der vier Lehrer aus der Kaiserstühler Gegend. Den Sasbacher Bogen hat zum Beispiel ein aus Wyhl stammender Lehrer ausgefüllt, in Wyhl sagt man aber nicht anders als in Sasbach Fiir usw.

Fruuchd oder 'Korn'?

Weitere Abweichungen im Kaiserstühler DSA-Material zum heutigen Dialekt sind leicht auf zu wörtliche Übersetzungen zurückzuführen. So wurde etwa "Ich bin ... über die Wiese ins Korn gefahren" durchweg mit "ins Korn gfahrä" übersetzt. Nun sagt man im Kaiserstühlerischen zwar Ghorn, man meint damit aber 'Roggen' oder ein einzelnes Körnchen (Ghärnlí). Hier ist aber ganz allgemein 'Getreide' gemeint, und das heißt d Fruuchd oder d Fruchd und hat mit Sicherheit im letzten Jahrhundert schon so geheißen. Man fährt in d Fruuchd oder uf dr Fruuchdagger.

Wenn solche offenkundigen Fehler ausgesondert sind, ergibt sich aus den Unterlagen des Deutschen Sprachatlas, daß die Sprache, die ältere Leute heute sprechen, kaum eine andere ist als vor über 100 Jahren. Anders ist es bei der jüngeren Generation. Die Übersetzung der 40 Sätze würde in heutigen achten Klassen je nach Ortschaft mehr oder weniger verheerend ausfallen. Um es ohne Wertung zu sagen: Die heutigen Schüler und Lehrer würden einen Übersetzungstext abliefern, der viel näher am Hochdeutschen liegt als die Texte von 1887. Dazu ein paar Beispiele, Wörter, die bei heutigen Schülern im Rückgang oder verschwunden sind.

 "diese Nacht"

Einer der Sätze, die zu übersetzen waren, hieß "Der Schnee ist diese Nacht bei uns liegen geblieben". Die Schüler haben 1887, zum Teil vielleicht durch die Lehrer daraufgestoßen, in acht von zwanzig Orten "diese Nacht" mit 'hinicht' oder ähnlich übersetzt; unter diesen acht ist sogar Breisach: "Dr Schnee isch hinecht liege bliebe, aber hüte morge ischr vergange." In Sasbach hat man "diese Nacht" mit 'nächt' übersetzt. 'Hinicht' und 'nächt' dürften noch in weiteren Ortschaften lebendig gewesen sein. In den meisten Fällen wurde aber doch einfach 'diä Nacht' oder 'd Nacht' geschrieben. Durch die hochdeutsche Vorgabe wird man zu dieser wörtlichen Übersetzung verleitet. Das gleichbedeutende Ersatzwort für 'hincht' heißt aber nicht 'diä Nacht', sondern híd z naachd - dies im letzten Jahrhundert wohl ebenso wie heute. Das Ersatzwort für 'nächt' (nááchd) ist geschderd z Oowä, oder wenn nicht der Vorabend, sondern die Nacht vor dem Vorabend gemeint ist, geschderd z Naachd.

"nicht sehr hoch"

Anders war es beim Satz "unsere Berge sind nicht sehr hoch". Es gibt im Kaiserstühlerischen kein Wort, das Ähnlichkeit mit "sehr" hat. Die Verführung, es dem Hochdeutschen nachzumachen, war nicht groß. Daher taucht nur einmal 'sehr hoch' und einmal 'sär hoch' auf. Am häufigsten haben die Schüler im letzten Jahrhundert das für sie schwierige "nicht sehr hoch" mit 'nit so hoch' umschifft.

Ein anderer Satz im Fragebogen hieß "die Füße thun mir sehr weh". Hier wurde ebenfalls zwei Mal "sehr" mit 'sehr' übersetzt, aber nicht in den selben Ortschaften wie beim ersten Satz. In sechs Bögen wurde "sehr" nicht übersetzt, sondern einfach weggelassen.

In wieviel der 20 Bögen welche Wortkombination belegt ist, zeigt die folgende Tabelle.

"nicht sehr hoch"   "sehr weh"
'nit so hoch' 8   - -
'nit äso hoch' 1   - -
'nit arg hoch' 3   'arg weh' 6
'nit selli hoch' 4   'selli weh' 4
'nit sär hoch' 1   - -
'nit sehr hoch' 1   'sehr weh' 2
'nit gar hoch' 2   - -
- -   'stark weh' 1
- -   'dichdig weh' 1
- -   kein Beleg 6

Nun wurde nicht immer in beiden Sätzen das gleiche Wort für "sehr" benutzt, sondern zum Beispiel in Jechtingen heißt es 'nit sälli hoch' und 'arg weh'. Im Endinger Bogen heißt es 'nit sehr hoch', aber 'arg weh'. Unter Berücksichtigung beider Sätze kann man sagen, daß 'selli' 1887 in 6, 'arg' in 9 Ortschaften belegt ist. Vermutlich aber waren beide Wörter überall gängig.

Im Sasbacher Bogen tauchen beide nicht auf, es heißt vielmehr 'nit sär hoch' und 'stark weh'. Doch in der Arbeit von Dierberger (1901) findet sich kein Beleg für 'sär', stattdessen beschäftigt er sich eingehend mit 'selí'. Er erklärt dieses Wort mit "sö-lich", darin steckt also der Bestandteil "so". Als Anwendungsbeispiel führt er auf "'s isch selí drugá' (es ist sehr trocken)" und "'dáá(r) ebfel ísch am ärgschdá melsch (am selígschdá mehsch)'", also "dieser Apfel ist am meisten angefault". Namentlich beim Gebrauch als Eigenschaftswort hatte das Wort offenbar '-k', man sagte also in Sasbach "'des ísch selík' (das ist arg, bös)". Die Wortformen 'selík' und 'ám selígschdá' und der entsprechende Gebrauch sind heute so gut wie vergessen. Dagegen hört man seli durchaus noch - in Sasbach wie auch in weiteren Ortschaften.

 "geh nur!"; "der braune Hund"

Im Satz "geh nur, der braune Hund tut dir nichts" wurde "geh!" neunzehn Mal mit 'gang' übersetzt und nur einmal mit 'geh'. Dieses "geh!" muß damals Schülern und Lehrern als Dialektwort noch arg abwegig geklungen haben. Ebensosehr daneben muß 'dr brune Hund' geklungen haben, denn es ist nur einmal mit 'e' belegt. An den anderen neunzehn Schulen schrieb man ohne 'e' elf Mal 'dr brün Hund', acht Mal 'dr brun Hund'.

''dann"; "aufhören zu schneien"

Ein Satz lautete: "Es hört gleich auf zu schneien, dann wird das Wetter wieder besser." Das Wort drnoo (dann) bringt es hier auf achtzehn Belege. In einem Bogen wurde es vergessen, nur im Endinger Bogen heißt es 'dann'. Ein anderer Satz hieß: "Hättest du ihn gekannt, dann wäre es anders gekommen." Hier wurde in 17 Bögen mit 'drno' übersetzt, in einem weiteren heißt es 'do'. Nur im Endinger und in einem weiteren Bogen heißt es 'dann'. Im Eichstetter Bogen heißt es in beiden Sätzen 'drno'; damit wird auch das 'denn' zurechtgerückt, das Moritz verwendet ('Denn wemmer zahle, Jesisjo!' S. 69; 'Denn will i zwische beidi sto', S. 71).

Der hochdeutschen Konstruktion "es hört auf zu schneien" sind nur die Leiselheimer und ihr Lehrer nicht auf den Leim gegangen, sie bezeugen: "S'hert gli uf mit schneiä, drno wirds Wäder wider besser."

Den Endinger Bogen füllte ein Lehrer aus, ohne erst die Schüler zu befragen, ist er doch, wie er schreibt, selbst in Endingen geboren. Und er wollte unbedingt den Eindruck vermeiden, als sei man in seiner Heimatstadt hinter dem Mond. Die Frage nach der Volkstracht der Frauen beantwortet der Schulmeister mit ''modern großstädtisch". Die 40 Sätze sind bei ihm nahezu hochdeutsch. Der Satz, in dem er das heute noch gängige drnoo hätte bringen müssen, lautet bei ihm "es hört glich uf zu scheie, dann wird das Wetter wieder besser" (!). Ein anderer Satz beginnt bei ihm: "Nachdem wir gestert z'Obe z'ruck kame .. .". Aber, aber, Herr Lehrer! "Nachdem wir ... kame" heißt in Endingen wu-mr ghummä sín. Setzen! Nächstes Mal besser aufpassen!

"sei so gut!"

Um so auffälliger sind die folgenden Belege aus dem sonst fast unbrauchbaren Endinger Bogen: 'eine Budelle Win' (eine Flasche Wein), 'gestert z Obe' (gestern abend), 'gang, bis so gut und sag der Schwester ...‚ (geh, sei so gut ...). Wenn selbst dieser wenig selbstbewußte Lehrer diese Wörter bezeugt, dürften sie damals noch eine uneingeschränkte Stellung im Dialekt gehabt haben. Die Befehlsform bis! (sei!) ist in Endingen in den hundert Jahren seither ausgestorben; wir werden im Kapitel "Konfessionelle Besonderheiten im Dialekt" noch darüber sprechen.

"Zungenspitzen-r" oder "Zäpfchen-r"?

"Wird das r in roth, rund mit der Zungenspitze oder hinten im Munde gebildet?" So lautete eine der Fragen, die neben den 40 Sätzen aufgeführt waren. Ein Zungenspitzen-r trifft man im Bayrischen, im Österreichischen und in der Schweiz noch häufig an. Selbst wenn Bewohner des Freistaats oder der Alpenrepubliken ihre Heimat verlassen und weitgehend zum Hochdeutschen übergehen, begleitet dieses r sie oft ein Leben lang.

Ein ähnliches, hinter den oberen Schneidezähnen mit der Zungenspitze gebildetes r sprechen auch in der Kaiserstühler Gegend noch viele Leute, die vor 1920 oder vor dem 1. Weltkrieg geboren sind. In einigen Ortschaften auch noch viel jüngere. Siehe dazu Karte 12, S. 86.

Bei meiner Dialektumfrage habe ich möglichst auch Jüngere nach diesem r gefragt. Wenn bei den Gewährsleuten die Kinder anwesend waren, fragte ich sie, wie ihre Eltern das r aussprechen. So gut wie alle Kinder (das sind 30 - 60 Jährige) glaubten, die Eltern sprächen das r wie sie selbst aus. Die Verblüffung war dann meistens groß, wenn sich herausstellte, daß die Alten das r an einer ganz anderen Stelle im Mund bilden als die Mittelaltrigen und Jungen.

1887 dürften auch die Kinder das r vorne gebildet haben, denn sie oder ihre Lehrer haben das Zungenspitzen-r an 16 der 20 Schulen bezeugt. Unter diesen 16 sind Achkarren, Königschaffhausen, Riegel und sogar Breisach, Orte, wo ich selbst diese ältere r-Aussprache nicht angetroffen habe, zumindest bei meinen Gewährsleuten nicht.

In Bickensohl, Oberrotweil und Wasenweiler schreiben die Lehrer dagegen 1887 "hinten im Mund", Tatsache aber ist, daß dort selbst heute noch ältere Leute das r vorne aussprechen.

Das r, das sich heute bei den Jüngeren fast ganz durchgesetzt hat (der Verfasser kann sich da nicht ausnehmen), nennt man das 'Zäpfchen-r', weil es am Zäpfchen, am Hintergaumen gebildet wird. Freilich hört man heute bei einigen jüngeren Alemannen auch schon das Hannoveranische r, das nach Selbstlauten zu á verschmolzen ist: Gäl, du musch au scheen hoäche, wänn dá Heá Leárá was saagt!

Zur Aussprache des r in Sasbach 1901 siehe S. 462, wo wir Dierberger zitieren.