Edwin Röttele
Die Herren waren bei Laune
 

Es war der dritte Sonntag im Oktober 1718, Kirchweihtag. Am Königschaffhauser Tor trafen sie sich wie ausgemacht: der Cameranus des kirchlichen Landkapitels Endingen samt seinem Bruder Vikar und der neue Pfarrherr von St. Peter. Die beiden ersteren kamen mit einer leichten Kutsche von Sasbach, der vor wenigen Wochen erst eingesetzte Endinger Herr hatte die paar hundert Meter zu Fuß zurückgelegt. Pünktlich um elf Uhr wie ausgemacht schlugen sie nach kurzer Begrüßung miteinander den nahen Weg nach Wyhl ein. Dort hatte Pater Jakob um die gleiche Zeit das Kirchweihamt beendet, war die fünf Sandsteinstufen aus der Sakristei in den Kirchhof hinabgestiegen und ging nun durch die Reihen der Verstorbenen; viele von ihnen hatte er gekannt: Kinder, Männer und Frauen im blühenden Alter und auch ein paar Hochbetagte, und beim Sinnieren über Leben und Tod legte sich ein wenig seine Unruhe. Er erwartete Gäste, nicht unbedingt erfreuliche, aber unvermeidliche, nämlich die schon genannten drei geistlichen Kollegen. Das Verhältnis von Lehensherrschaft und Lehensuntertanen war nicht nur im weltlichen Bereich seit Jahrhunderten gespannt, sondern auch in den kirchlichen Beziehungen. Die geistlichen Herren des Landkapitels Endingen beanspruchten seit ein paar Jahren das Visitationsrecht über die Kirche in Wyhl, und der Bischof von Konstanz und seine Verwaltung unterstützten sie dabei; das Kloster St.Märgen aber, seit 1324 Grundherr der Gemeinde und zugleich für die Seelsorge im Ort zuständig, wehrte sich gegen diesen Versuch, die Endinger Lehenshoheit gleichsam auch auf den kirchlichen Bereich auszudehnen. Man lebte also in gespannten Verhältnissen, doch einen Krieg wollte man auch nicht; also hatte Pater Jakob seine drei Mitbrüder aus dem Kapitel zum Mittagessen und einem nachmittäglichen Umtrunk eingeladen. Auch wenn er sich beim Gang durch die Reihen der Gräber wieder gefaßt hatte, die Unruhe blieb.

Unterdessen waren die drei Geladenen nach Wyhl unterwegs. Das Wetter war gut, seit Tagen hatte es nicht geregnet, der Weg staubte sogar ab und zu, es war wirklich ein goldener Oktobertag, und die Laune der drei war ausgezeichnet. Schon von weitem konnte man sie deutlich voneinander unterscheiden: der Linke war klein und dünn, der Rechte lang und schmal, der Mittlere aber war die beherrschende Figur: groß und breit, heischte er schon von seiner Statur her besonderen Respekt; gleichsam, um dies zu unterstreichen, trug er auch eine Schußwaffe. Er sagte, die Wyhler hießen ja bei den Nachbarn die Wölfe, also sei es geraten, sich auf diese Bestien einzustellen. Die Herren schritten tüchtig voran, kamen am Roten Kreuz vorbei, passierten den Bannstein zwischen Endingen und Wyhl und sahen schon lange dessen Kirchturm. Die Felder waren weithin abgeerntet, nur auf ein paar Äckern mußten die Rüben noch in Erdmieten geborgen werden, sonst schien bereits alles auf den Winter zu warten. Links neben dem Weg saß ein großer Schwarm Krähen, und der Lange versuchte einen Scherz: „Schaut mal, unsere armen schwarzen Schwestern!“ Und der Dicke sekundierte ihm: „Die haben das ganze Jahr Fastenkost, nur Körner und Gemüse; die Endinger müßten mal wieder einen an den Galgen hängen. Da geht es uns zum Glück besser, und heute werden wir den Pater Augustiner kräftig schröpfen! Keine französischen Mordbrenner seit vier Jahren, auch keine kaiserlichen Diebesbanden, dazu ein gnädiger Himmel mit Regen und Sonne zur rechten Zeit: den Wyhler Bauern geht es gut, also auch dem klösterlichen Confrater, und das werden wir heute nutzen!“ Dabei rieb er sich die Hände, und seine dunklen Augen unter den dicken Brauen funkelten vor Vergnügen.
Inzwischen hatten sie die kleine Anna-Kapelle unweit des Dorfes erreicht und damit auch schon fast den Ortsetter, und von dort aus sahen sie dann bald unter ein paar Linden das Kreuz im Oberdorf, wo alle Wege in den Dorfplatz mündeten. Schräg links gegenüber stand das stattliche Fachwerkhaus, das die Gemeindestube barg, sie aber wandten sich nach rechts zur Breiten Gasse, kamen nach kurzer Zeit zum Widumhof und zur Kirche, stiegen die kurze Treppe zum Kirchhof hinauf und standen wenig später vor der Pfarrhaustür. Auf dem ganzen Weg durch das Dorf hatte sie kein Mensch gegrüßt; wer draußen vor dem Haus oder im Garten war, hatte sich bei ihrem Näherkommen schnell verdrückt - die drei wußten, daß sie in Wyhl nicht willkommen waren.
Nun standen sie also vor der Tür; der kleine Dünne zog an der Glockenschnur, und fast im gleichen Augenblick öffnete Pater Jakob die schwere eichene Pforte und begrüßte sie. „Salvete, fratres!“ sagte er höflich, und die drei antworteten ebenso höflich: „Salve, frater!“1 Der Pater führte seine Gäste in den schönsten Raum des Hauses, dessen Fenster nach Südwesten den Blick auf die Kirche und den davorliegenden Teil des Gräberfeldes freigaben, während man durch die Fenster auf der Südostseite eine große Grasfläche vor der Zehntscheuer und rechts daneben Dachgiebel aus der Märgener Gasse und als Abschluß den Komplex des Widumhofes sah. Die Gäste waren sichtlich beeindruckt von Raum und Ausblick, und der Dicke, den die anderen nur „Reverendissimus“ nannten, weil er als Kämmerer des Landkapitels großen Einfluß besaß, der also faßte sich zuerst und sagte:
„Respekt, Respekt, Pater, hier kann auch Euer Vater Abt speisen, wenn er Euch besuchen wird, und wie man hört, will er nicht nur das Kloster im Schwarzwald wieder aufbauen, sondern auch öfters Wyhl als Refugium2 nutzen, wenn es ihm demnächst in St. Marienzelle zu kalt oder in Freiburg zu unruhig wird.“3  „Wenn Vater Andreas unser Kloster im Schwarzwald wieder erstehen läßt,“ gab Pater Jakob zur Antwort, „werden wir alle glücklich sein. Wir Chorherren nach der Regel des heiligen Augustinus sind zwar der Seelsorge verpflichtet, aber wir brauchen auch die besinnliche Ruhe, wie sie uns Marienzelle bieten würde; ich hoffe, er kann das begonnene Werk vollenden.“ Inzwischen hatte Sophie, die Wirtschafterin und Köchin, die festtägliche Nudelsuppe auf den Tisch gebracht und in die Teller geschöpft. Die vier Herren sprachen gemeinsam ein lateinisches Tischgebet, dann bat Pater Jakob seine Gäste, Platz zu nehmen. Diese löffelten genüßlich ihre Teller leer, und die Sorge des Hausherrn legte sich etwas. Sophie ließ die Suppenteller abtragen und das Hauptgericht bringen: Schweinebraten mit Rosenkohl aus dem Pfarrgarten und Klöße. Peter, der Hausknecht, hatte einen großen Krug Wein aus dem Keller geholt und schenkte nun ein in die schönen böhmischen Gläser, die der Pater erst vor wenigen Wochen von einem alten Freund aus Wien als Geschenk durch einen Kurier zugestellt bekommen hatte. „Pater Jakob“, sagte der Reverendissimus, „in solche Gläser paßt aber kein Wyhler Hohrainer; ich hoffe, Ihr habt uns einen Kiechlinsbergener aus den bekannt guten Lagen Eures Klosters einschenken lassen!“ Pater Jakob lächelte und antwortete: „Ich wußte ja, was für Weinkenner heute meine Gäste wären. Es ist zwar schwer, mit dem Sasbacher Roten oder dem Endinger Engelberg zu konkurrieren, aber probiert ruhig.“ Das taten die drei auch, und zwar so kräftig, daß Peter gleich zweimal nachschenken und dann den Krug neu füllen mußte. Pater Jakob aber wurde die Sache etwas unheimlich; er sah, wie die Gesichter seiner Gäste allmählich rot anliefen, und ihre Äußerungen wurden auch immer unbeherrschter. Doch der Reverendissimus kam nun erst richtig in sein Element; jetzt sollte es lustig werden, und zwar mit Gesang. Er fragte also seine Kumpane: „Was singen wir? Den Schwabenreim?“ Und die antworteten feixend: „Ja, den Schwabenreim!“ Also hob der Dicke an: “Mir dingge nur, wo's nix koschd, mir dringge nur, wo's nix koschd.“ Und die zwei anderen grölten mit ihm zusammen: „Ja, wenn das so ischd, ja, wenn das so ischd, ja, wenn das so ischd, dann Proschd!“ Sie fühlten sich immer mehr in ihre Studentenzeit zurückversetzt, und alle Lumpereien und aller Schabernack, den sie da getrieben hatten, fielen ihnen wieder ein. Der gute Pater, der in der strengen klösterlichen Zucht aufgewachsen war und lockere Studentensitten nie erlebt hatte, stand diesem Ausbruch fassungslos gegenüber. Seine Gäste aber gerieten noch mehr in Fahrt, und ihr Ziel wurde immer deutlicher der Gastgeber: „Ein Prosit, ein Prosit, ein Prosit, ein Prost, und wenn es dem Pater sein Pfarrhäusle kost,“ so hörten Wirtschafterin und Hausknecht in der Küche, und auch Verwalter und Personal vom benachbarten Widumhof wurden auf den Lärm im Pfarrhaus aufmerksam. Michel, der Ochsenknecht, sagte: „Bim Paadr isch woll dr Deifl los!“ „Drei Deifl, ich haa si gsaana,“4 sagte der Verwalter.
Pater Jakob versuchte auf die Gäste mäßigend einzuwirken: „Meine Herren,“ wandte er sich an sie, „meine Herren, mir scheint, wir sollten den Umtrunk beenden, denn gleich muß ich zur Vesper. Ich lade Sie gerne dazu ein.“ Doch da brauste der Dicke auf: „Pater, wir sind keine Klosterknaben, sondern Herren, und wenn du uns schon einmal eingeladen hast, dann sei nicht unhöflich, sondern laß uns trinken, solange wir wollen und können, und Vespern können wir noch viele feiern, heut haben wir frei!“ Und zum kleinen Dünnen gewandt: „Kaplan, der Herr Cameranus und der Herr Oberpfarrer der Lehensherrschaft Endingen geben dir den Auftrag, für einen weiteren Krug Wein zu sorgen in diesem gastlichen Haus!“ „Fiat voluntas tua, Reverendissime,“5 sagte der Kaplan, und der Dicke nahm die Anspielung auf das lateinische Vaterunser mit breitem Grinsen zur Kenntnis, während der Pater sich wegen dieser Blasphemie heimlich bekreuzigte; er ging mit bedrängter Seele in seine Kirche. Unterdessen zog der Kaplan mit dem leeren Krug zur Küche, aber Peter weigerte sich, ihn ohne Auftrag des Paters noch einmal zu füllen. Er ging also mit dem Kaplan zurück, fand aber den Pater Jakob nicht mehr vor. Stattdessen erklärte der Reverendissimus: „Einen vollen Krug haben wir befohlen, Kerl! Ab in den Keller!“ Peter verharrte einen Augenblick unschlüssig, drehte sich dann langsam zur Tür, und wenig später stand der zum dritten Mal gefüllte dickbauchige Krug auf dem Tisch. Der Knecht verschwand schleunigst, doch der Kaplan übernahm die Rolle des Mundschenks. Die drei Gäste führten sich nun auf wie eine Truppe nach erfolgreichem Sturm auf die feindliche Festung. Bevor der Kaplan einschenkte, sang der Dicke im Ton einer Litanei: „Wir armen Stinker“ - und alle drei antworteten: „Wir bitten dich, erhöre uns!“ Darauf schüttelten sie sich vor Lachen.
Inzwischen war die Vesper zu Ende, und die Leute kamen aus der Kirche, und viele suchten die Gräber ihrer Verwandten auf dem Kirchhof auf, und Pater Jakob war mitten unter ihnen. Der Reverendissimus und seine Kumpane aber stellten sich in eines der Fenster zum Kirchhof hin und urinierten in aller Öffentlichkeit heraus. Die Menschen auf dem Kirchhof begriffen den Spott und Hohn, und vor allem die Männer hätten die drei am liebsten am Kragen gepackt, aber sie wussten aus bitterer Erfahrung, dass sie gegen solches Pack im schwarzen Frack nicht ankamen. Sie ballten also in ohnmächtiger Wut die Fäuste und hofften auf eine spätere Gelegenheit. Den Pater Jakob nahmen sie aus, der war ein Opfer wie sie, das wussten sie, und er tat ihnen leid. Als der in das Pfarrhaus zurückkam, waren die Gäste verschwunden. Sophie berichtete ihm, sie hätten zuerst mit dem restlichen Wein sie und den Peter bespritzt und gesagt, sie wollten sie noch einmal richtig taufen; danach seien sie durch den Pfarrgarten ins freie Feld verschwunden. Pater Jakob atmete fürs erste auf, aber er ahnte, dass das Unheil noch nicht vorbei war. Und seine Ahnung trog ihn nicht, denn als es zu dämmern begann und der Gänsejunge eben auf der Wiese bei der Zehntscheune seine Herde sammelte und in den Stall treiben wollte, fielen ein paar Schüsse, und der Bub rannte entsetzt ins Haus und schrie: „Si schiaßa unseri Gans dood!“ Was nun folgte, war wie ein Stück aus dem Tollhaus. Der Reverendissimus hatte tatsächlich im Nu drei Gänse erlegt. Nun packte er eine davon am langen Hals, hielt sie vor den Bauch und sang:
 
„Schwupps, ich hab ‘ne Gans gestohlen,
geb sie nimmer her, geb sie nimmer her,
soll mich eh‘r der Teufel holen
mit dem Scheißgewe-he-her!“
 
Die beiden Begleiter machten es ihm nach, und zu dritt tanzten sie im nun schon schwachen Abendlicht hintereinander her und sangen ihr Gänselied; es war eine gespenstische Szene, die drei schwarzen Gestalten mit den weißen großen Tieren vor dem Bauch - wahrhaftig, in Pater Jakobs Garten waren die Teufel los. Nach einer Weile stapften sie wieder ins Haus und brachten die toten Tiere in die Küche, legten sie auf den großen Tisch, und der Reverendissimus sagte, sie hätten nur für einen ordentlichen Kirchweihbraten sorgen wollen; der käme zwar etwas verspätet, aber so eine Gans schmecke auch am Werktag gut. Dann gingen sie in das Empfangszimmer zurück, der Kaplan füllte die Gläser, der Dicke zählte : eins - zwei -, und bei drei warfen sie die vollen Gläser mit „Prosit!“ hinter sich; dabei gingen nicht nur die schönen Gläser zu Bruch, sondern auch zwei Fensterscheiben. Damit schienen sie sich ausgetobt zu haben; sie zogen in die Küche und befahlen der verängstigten Sophie, der Knecht solle sie zum Vogt führen, und zwar sofort. Den brauchte die Köchin nicht zu rufen, er hatte im Flur alles gehört und schon eine Laterne gerichtet, denn draußen war es jetzt dunkel. Peter ging voraus und leuchtete den drei bedenklich schwankenden Gestalten auf dem Weg durch den Kirchhof, dann die Treppe hinunter und schließlich zum Hof des Vogts. Dieser war alles andere als erfreut über den unerwarteten Besuch, und er sah auch mit einem Blick, in welchem Zustand die unliebsamen Gäste waren; außerdem wusste bereits das ganze Dorf, was im Pfarrgarten passiert war. Aber zurückweisen konnte er die geistlichen Herren auch nicht; er fragte also nach ihrem Begehr.
Nach der Schießerei im Garten hatte Pater Jakob es nicht mehr ausgehalten im Haus. Er war verzweifelt in die Kirche geflüchtet und hatte alle Türen verschlossen; nun lag er lang ausgestreckt vor dem Altar, und aus dem hundertfach wiederholten Stoßgebet „Hilf, Herrgott, hilf!“ wurde allmählich, ganz allmählich eine Klage, in der er Gott sein Herz ausschüttete. Und je länger er ihm das Ungeheuerliche erzählte, das diese wahrhaft unwürdigen Mitbrüder angerichtet hatten, umso ruhiger wurde er. Und nun schien auch draußen alles still zu sein. Der Pater ging in die Sakristei und lauschte eine Weile; dann sah er den Peter mit der Laterne zurückkommen und schloss die Sakristeitür auf, und als er sie wieder zusperrte, stand der Peter schon an der Treppe und leuchtete ihm dabei. Er erzählte, was zum Schluss noch passiert war und dass die drei jetzt den Vogt heimgesucht hätten. Den Pater schmerzte es zwar, dass drei der schönen und als Freundesgabe ihm besonders kostbaren Gläser mutwillig zerstört worden waren, und auch die zwei Fenster hatte er vor kurzem erst neu verglasen lassen, aber im Innersten war er gefasst und entschlossen, dem Vater Abt einen ausführlichen Bericht zu schicken. Dass diese drei „Herren“ sein Pfarrhaus nicht mehr betreten durften, das stand für ihn fest.
Vogt Johannes hatte die unverhofften Gäste in die Stube geführt und sie am großen Esstisch Platz nehmen lassen. Nachdem sie ihm schon am Hoftor gesagt hatten, sie wollten mit Speis und Trank versorgt werden und dazu auch Musik haben, überließ er die Sorge für das Essen seiner Frau, schickte Adam, den Altknecht, zum Widumhof mit der Bitte, der Michel solle kommen und seine Bassgeige mitbringen, und die Anna möge beim Bedienen helfen; und Stefan, den Jungknecht, schickte er mit einer großen Kanne in den Weinkeller unter dem Walmen in der Scheune und schärfte ihm ein, er solle vom Neuen, vom Federweißen holen. Die Hausfrau hatte in einem Strohkörbchen Brot und in einem anderen Nüsse auf den Tisch gestellt und große Gläser aufgesetzt, Stefan brachte die volle Kanne und schenkte ein, der Vogt setzte sich mit an den Tisch, drückte mit seinen Händen immer zwei Nüsse gegeneinander, dass die Schalen zerbrachen, und schob die geknackten Kerne den Herren hin. Dann kam der Michel mit der Bassgeige in die Stube, und Anna ging in die Küche. Michel und Anna waren Knecht und Magd auf dem Widumhof, und sie „gingen miteinander“, wie man im Dorf sagte, wenn ein Bursche und ein Mädchen befreundet waren und vorhatten zu heiraten. Stefan spielte ganz ordentlich Geige, und er sorgte oft bei Familienfesten mit Michel zusammen für die Musik, und so sollte es nach des Vogts Wunsch auch heute sein. Die drei Gäste verhielten sich ungewöhnlich ruhig, klaubten die Nusskerne aus den Schalen, aßen einen Bissen Brot dazu, und nach dem ersten Glas Wein hatten der Kleine und der Lange Mühe, die Augen offen zu halten. Michel und Stefan fingen an zu spielen und begannen mit einem bekannten Marsch. Der Reverendissimus versuchte auf dem Tisch den Takt zu klopfen, aber so richtig klappte es nicht, der Federweiße tat seine Wirkung; Vogt Johannes registrierte es mit Befriedigung. Der Kleine und der Lange lagen schon halbwegs unter dem Tisch, als die Musikanten das zweite Stück begannen. Es war ihr neuester Schlager, und sie hatten ihn auch am Samstagabend beim Kilwitanz gebracht. Michel sang dazu mit einer kräftigen, angenehmen Stimme:
 
„Hidd isch Kilwi, morn isch Kilwi, bis am Sunndig z‘Oowa,
wann ich zu miim Schatzli kumm, no saag i Guadan Oowa,
guadan Oowa, Lissabeed, zaig mr, wu dii Beddlaad schdeed.
Hinderem Oofa an dr Wand; Kiachli bacha isch kai Schand!“6
 
Das Stück gefiel den beiden, sie wiederholten es. Von den drei Besuchern saß nur noch der Dicke am Tisch, die zwei anderen lagen bereits auf dem Boden und schnarchten. Anna brachte aus der Küche noch einmal Brot; sie wiegte sich dabei zur Musik leicht in den Hüften und machte ein paar Tanzschritte. Als Michel sang: „zaig mr ...“ grapschte der Reverendissimus unbeholfen nach dem Mädchen. Der Gesang brach jäh ab, und Michel brüllte voller Wut: „Loß diini Wixgriffel vu dam Maidli, oodr ‘s gidd Büüragriag in daara Schduuwa.“7 Der Reverendissimus verstand zwar kein Wort, wohl aber den drohenden Sinn. Einen Augenblick war es mucksmäuschenstill in der Stube; Michel stand breitbeinig hinter seiner Bassgeige und hielt mit der rechten Hand den Bogen wie einen Knüppel, Stefan hatte Geige und Bogen auf den Tisch gelegt und schaute zum Vogt hin, der sich neben den Reverendissimus gestellt hatte, und Anna war mit ein paar raschen Schritten in die Küche verschwunden. Der Reverendissimus schaute zunächst wie ein ertappter Schulbub vor sich hin, doch dann ging sein Blick zur Küchentür, und in seine Augen kam ein tückischer Glanz. Er begann zu sprechen, aber er lallte nur noch; trotzdem verstand Vogt Johannes die wichtigsten Wörter: „... unkeusch ... Hexe ... muß ver-ver-brannt werden!“ Danach lag auch der Reverendissimus am Boden.
Vogt Johannes handelte rasch: „Adam, Michel, Schdaffa, pagga Schdrau uff dr Dillawaaga un leega dia drei druff, aawr voorsiichdig! Adam, schbann dr Brüün aa un bring dia Härra uff Saarschba, und düü, Schdaffa, nimm d‘Ladarna un faar midd!“8 Nach wenigen Minuten rumpelte der Wagen vom Hof auf die Gasse, und kurz darauf war nach einer Wegbiegung auch Stefans Laterne nicht mehr zu sehen. Michel und Anna sagten den Vogtleuten Gute Nacht; Michel trug in der Linken seine Bassgeige, mit der Rechten hielt er Anna umfasst, und die schmiegte sich an ihn, so gingen sie durch die ruhige, sternklare Nacht zum Widumhof. Vogt Johannes stand noch eine Weile im Hof und versuchte zu fassen, was er in den letzten zwei Stunden erlebt hatte; dann spuckte er kräftig aus und sagte laut in das stille Dunkel hinein: „Härragsindl!"9
 
 
 
Zwei Eintragungen zum Geschehen
 
1)   Pater Jacob Abegg im Notabilienbuch:
Den l6ten october (1718) ist allhier Kirchweyhung gehalten worden, meine Gäste
waren der durchgestrichen vener. Capituli Camerarius durchgestrichen (Guldinast) und seyner durchgestrichen und dan auch der pfahrherr zu St. Peter in Endingen Joan Baptista Rieger (?) als dise 3 geistl. voll bezecht waren, haben sij mihr die gläser sambt dem wein an die wänd geworfen, etliche scheiben eingestoßen, 3 gänß in einem schuß niedergeschossen, das hauß mit dausent flüch und vermaledeyung angefüllt. Viller anderer Insolentia zu geschweigen  entlich bey finsternacht aus dem pfahrhoft, aber nit weiter als bis des Vogdtshaus allhier, allwo sij nach spiehlleuth beruofen, und bis in die finsternacht verbliben, damit der hiesige Vogdt seyner Ehren ??? abkomme, hat Er lassen die roß einspannen, alle zusammen auf ein Karren geladen und nacher Sasbach abführen lassen.
(Notabilienbuch 18. Jahrhundert, S. 59, Pfarrarchiv Wyhl)
 
2) Abt Andreas Dilger (St. Märgen) in seinem Tagebuch:
 
Nov 4 (1718) P. Simon von Wyhl zurück „erzählt, wie sich der H. Camerarius des Endinger Capitels, N. Guldinast, Pfarrer zu Saspach, dessen H. Bruder Capellanus allda, und der neye Pharherr von Endingen an der Kirchweyhung bey unserem R.P. Jacobus Abegg so unfaßlich verhalten, benanntlich habe Er, Camerarius, dem P. Jacob die Strüppen versudlet, ihne einen Fauten gehaißen, der Haushälterin Wein in das Angesicht gesprizet 2 mal pp. Endlichen in consputu populi post vesperas ac rosarium ex ecclesia euntis, zu einem Fenster hinaus mingieret, auch wenig gefehlt, dass diese drey ihne, R.P. Jacobum, nit geschlagen, da sie doch von ihme alle Höflichkeit und ein gar herrlich Mittagessen empfangen haben“.
(Freiburger Diözesan-Archiv 119. Band 1999, S. 40 f.)


1 Seid gegrüßt, meine Mitbrüder! - Sei gegrüßt, Mitbruder!
2 Zuflucht-, Erholungsstätte
3 Marienzelle ist der ursprüngliche Namen von St.Märgen
4 "Beim Pater ist wohl der Teufel los!" "Drei Teufel, ich habe sie gesehen,"
5 Es geschehe dein Wille, ehrwürdigster Herr!
6 Heut ist Kirchweih, morgen ist Kirchweih,
bis am Sonntag Abend,
wenn ich zu meinem Schätzchen komm,
dann sag ich: Guten Abend,
guten Abend Elisabeth,
zeig mir, wo deine Bettlad steht.
Hinterm Ofen an der Wand.
Küchlein backen ist keine Schand!
7 Lass deine Dreckfinger von dem Mädchen, oder es gibt Bauernkrieg in dieser Stube!
8 Adam, Michael, Stefan, packt Stroh auf den Dillenwagen und ladet die drei drauf, aber vorsichtig! Adam, spann den Braunen an und bring die Herren nach Sasbach, und du, Stefan, nimm die Laterne und fahr mit!
9 Herrengesindel

 

 E schene Grueß vum KAISERSTUEHL UN TUNIBÄRG
Ein schöner Gruß von Kaiserstuhl und Tuniberg
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