aus: Wissen und Leben. Schweizerische Halbmonatsschrift. 7,1 (1913/14), S. 682-696

HERMANN BURTE [Wiltfeber]

von Ernst Dick

Wer ein paar Seiten von Hermann Burte gelesen hat, wird wissen, dass dieser DichterWissen und Leben, Schweizerische Halbmonatsschrift 1913 ein ganz eigener ist. Die Probe mag gefallen, sie mag aber auch befremden; sie wird sicher die Neugier des unvoreingenommenen Lesers wach rufen. Über Hermann Burte zu schreiben, ist leicht und verlockend, zugleich aber auch schwer und abschreckend: leicht, weil über ihn so viel und so Merkwürdiges zu sagen ist; schwer, weil man sich seiner Sache, im Guten sowohl als im Bösen, nie ganz sicher fühlt. Je mehr ich ihn studiere, desto mehr schwankt mein Urteil, desto heftiger fühle ich mich sowohl angezogen als auch abgestoßen. Er ist ein hochbegabter Dichter, dem die herrlichsten Sachen gelingen, der aber darauf auszugehen scheint, seine aufrichtigsten Bewunderer irre zu machen. (...)

Im Mittelpunkt von Hermann Burtes Schaffen steht der Roman Wiltfeber, der ewige Deutsche; die Geschichte eines Heimatsuchers. Dieses Buch ist, je nachdem, über oder unter aller Kritik. Mit den gewöhnlichen Maßstäben darf man den Roman nicht messen wollen. Es ist übrigens weder ein Roman noch eine Geschichte. Man entdeckt darin weder eine fortschreitende Handlung noch irgend welche Entwicklung. Der Stoff: ein Tag, ein einziger, wohlverstanden, wenn auch von vollen vierundzwanzig Stunden und zur Zeit der größten Tageslänge - ein Tag aus dem Leben eines jungen Mannes. Ein Tag so furchtbar, so unerhört, dass es nicht Wunder zu nehmen braucht, wenn er dem ewigen Deutschen das Leben kostet. Die Ewigkeit dieses Helden ist wohl eben an einem andern Ort zu suchen. Diese Stoffwahl ist von der Gewalttätigkeit Hermann Burtes nur ein kleines Beispiel. Der Roman enthält so viele Ungeheuerlichkeiten, dass man nicht begreift, wo für das Wohlgewachsene, Vernünftige, Gebändigte noch Raum bleiben soll. Aber man darf eben beides nicht scheiden wollen. Auf Schritt und Tritt sieht man aus Missgestalt Ebenmaß werden, Natürlichkeit sich zur Fratze verzerren. Auch der Gehalt wirkt abwechselnd hinreißend und abstoßend, fordert zum Widerspruch heraus und redet aus dem Herzen. Darf man da tadeln, darf man da loben? oder auch nur den Versuch machen, zu unterscheiden, was Natur und Kunst, was Übertreibung und Grimasse sei? Eine große Zeitschrift hat in dem Roman nur die verkörperte Nörgelei gesehen (kann das der Kunstwart gewesen sein? dann war es wohl derselbe Kunstwart, der Alfred Huggenberger den typischen „Feld-, Wald- und Wiesendichter" genannt hat; weiß der Himmel, mit was für einem Aufwand von Originalität); zahlreicher waren allerdings die Stimmen, die den Sieg des Buches verkündeten, und die Kleist-Stiftung hat den Dichter dafür mit ihrem Preise bedacht.

Der Wiltfeber ist nicht nur ein ungewöhnliches Buch, sondern ganz sicher auch ein starkes, wirksames Buch. In meinem Gedächtnis sind die großen Szenen unauslöschlich eingegraben: die nächtliche Heimkehr Wiltfebers, die Stunden auf dem Friedhof, die Morgenfrühe mit dem Abenteuer am Bach, dem Wiedersehen mit der einstigen Geliebten; das Heidenhaus und der alte Wittich; dann die sich jagenden Eindrücke des Tages: das Gauturnen, der Gottesdienst, die Betstunde der Stündeler, die Szene am Fluss, die in der Grotte mit der Geschichte des untergegangenen Bauernhofes, das Schulfest im Städtchen; schließlich der schwüle Abend, wo Wiltfeber, von den Ereignissen des Tages übermannt, äußerlich und innerlich erschöpft, seinem Unstern folgt und um Mitternacht, vom Blitz erschlagen, stirbt. Ja, alle diese Dinge leben in mir; ich brauche sie nicht nachzulesen, aufzufrischen, um darüber zu schreiben; ich kann mir nicht vorstellen, wie sie je verblassen könnten. Was schadet es da, wenn ich von dem Gerede über Nietzsche und den Reinen Krist keine Ahnung mehr habe? Dieser Teil des Werkes war tot von Anbeginn. Da ist mir der beißende Spott viel lieber. Und er verliert in der Erinnerung nichts von seiner Schärfe. Über viele und vieles ergießt er sich; es dürfte wenig Leser geben, die sich nicht getroffen fühlen müssten. Wiltfeber ist ein aufbegehrerisches, aufweckerisches, aufrührerisches Buch, darin es wie von einem Ungetüm tobt und brüllt und das uns ahnen lässt, wie schlecht wir uns hinter unserer Gesinnung und Gesittung verschanzt fühlen, wenn ein kühner Angreifer naht. Wiltfeber ist nicht ein künstlerisches, nicht ein „schönes", vielleicht nicht einmal ein gutes oder ein wahres oder gesundes Buch, aber ein starkes Buch und ein lebendiges. Es wurde aus der Zeit für die Zeit geschrieben: überdauert es die Zeit, so wird es einst als das Buch dieser Jahre gelten.

Ein Tendenzroman, und für die Zukunft geschaffen? Warum nicht? Fast alle Romane, die am Leben geblieben sind, waren Tendenzromane. Es gehört nur dazu, dass hinter der Tendenz eine überragende Persönlichkeit stehe - ein Rousseau (den Burte hasst), ein Pestalozzi, ein Gotthelf, um nur die größten zu nennen - ein Mensch von wahrer Ursprünglichkeit, aus dem die Natur unvermittelt zu uns spricht. Ich glaube, dass Hermann Burte das ist. Nicht weil er sich so geberdet. Wenn er im Prophetenton orakelt, ist man davon am wenigsten überzeugt; seine allzugroße Sicherheit macht uns irre. Das Werk verdankt seine Bedeutung andern Eigenschaften. Der krankhafte Held - den uns der Dichter als einen wahrhaft gesunden Menschen glaubhaft machen möchte - dieser Wiltfeber ist ein ergreifendes Bild von dem gequälten Seelenzustand der Besten unsrer Zeit. In ihm sind alle hohen Ziele, alle edlen Zweifel, all die tolle Überhebung, all der nagende Unmut (aus dem Gefühl unserer Erbärmlichkeit geboren) der Heutigen verkörpert. Er ist der Mensch, dem seine Haut zu eng geworden ist und der sich notgedrungen wie ein Erstickender benimmt, schnappt und überschnappt. Er will die Zeit beschämen, und siehe, er selber trägt die Schandmale der Zeit, ausgeprägter als irgend ein im Fleische Lebender. Darin besteht der Reiz, die zwingende Gewalt seiner Erscheinung: er spiegelt in voller Klarheit, was in vielen von uns vorgeht, was uns beunruhigt. Solch ein Buch war Goethes Werther für seine Zeit. Was verschlägt es, wenn wir auch beim besten Willen nicht überall Schritt zu halten vermögen, wenn wir uns stellenweise abwenden und das Haupt verhüllen möchten? Mir ist, als sähe ich in diesem großen Prosagedicht eine Fahne entfaltet. Sollen wir tun wie der Stier, vor dem das rote Tuch geschwungen wird, oder lieber wie die Streiter, die ausziehen, wenn das Feldzeichen flattert?

Zwar ich möchte keinem zumuten, dem Wiltfeber durchweg Heerfolge zu leisten. Er stürmt gegen alles an, was uns gewöhnlicheren Menschen hoch und heilig ist. Von den politischen und sozialen Anschauungen Hermann Burtes darf man fast nicht reden; sie sind das äußerste, was man sich denken kann. Der Roman und die Patricia stimmen darin überein. Ein Staatswesen, das sich auf Volksrechte gründet, gibt es nach ihm nicht. Rechte besitzt nur der Fürst, und der darf sie mit niemand teilen, sondern muss unbeschränkt herrschen. Wer ein Amt annimmt und ein Staatsgehalt bezieht, ist von vornherein ein Schuft. Vom Wählen und von Volksvertretungen weiß er folgendes:

Von allen Lügenspielen dieser Erden
Erscheint mir keines also schal und kläglich,
So schamlos tierisch, seelisch unzuträglich,
Wie die geheime Urnenwahl der Herden.

Bei Mächten, deren Dasein wir gefährden,
Die wir beneiden und bespein unsäglich,
Von denen wir Genüsse fordern täglich,
Soll uns ein Mensch zum Wünschvertreter werden.

Seit Gott erlag der keifenden Verneinung,
Fettfüttert man im Heiligtum ein zinnen
Rohblechgefäß, ergötzt, mit offner Meinung.

Mit feierlichen Mienen, wie bei Eiden,
Taucht hintern Vorhang Gleich und Gleich, sich drinnen 
Für Esel oder Langohr zu entscheiden.
                                                                    [aus: Patricia, Sonette]

Die Behörden, die weltlichen wie die geistlichen, setzen sich aus Fetzeln und Büffeln zusammen. Goethe war ein roher Mensch, sein Faust ist eine Pfuscherei. Der Gedanke an Rousseau muss einen anständigen Menschen mit Ekel erfüllen. Von Deutschland heißt es in den Sonetten:

„Wie hieß es doch? Der Dichter und der Denker
Erlauchtes Volk? - Man soll es fürder heißen:
Mischmasch der Splitterrichter und der Stänker.“

Das alles sind Übertreibungen; sie mindern den Wert der Werke gewaltig; die Gedichte und die Stellen des Romans, die uns solches bescheren, sind hässliche Entstellungen und zwingen uns fast, an der Aufrichtigkeit des Dichters zu zweifeln.

Hermann Burte wird nicht bei diesen verzweifelten Ansichten stehen bleiben; denn er ist ein Wahrheitsucher trotz allem. Die spätern Gedichte lassen bereits einen Wandel erkennen. In der Flügelspielerin spricht er wohl noch von den Menschen als von „Bestien ohnegleichen"; noch immer grollt und flucht er ihnen. Aber es gibt doch Dinge der Gegenwart, die Gnade finden: er besingt in mehreren Gedichten das elektrische Kraftwerk, die Wunder der Technik. Und sehr auffallend dünken uns von ihm die Sonette, die den Arbeitern gewidmet sind:

BRÜDER

Ihr Brüder, tief im Lärmen der Fabriken,
Im Steinbruch, auf der See, vor Grubenwänden,
Mit runden Rücken, Schwielen an den Händen,
Die Mörtel schleppen, Ofenglut beschicken;

An Wehren, Schranken, auf den Führerständen,
An Kesseln müsst ihr nach Signalen blicken,
In Kellern frieren, bang in Gasen sticken,
Als wär't ihr Stoff, euch in den Stoff verschwenden.

An Hoffnung arm, zur Freiheit außer Stande,
Müsst ihr den Wechsel toter Dinge treiben,
Die Sorgen drohend über euch wie Schlingen.

Ihr Brüder, lieben Brüder, Volk im Lande,
Ich muss den Wandel deiner Seele schreiben:
Das Hohelied der Untern will ich singen.
                                                                     [aus: Die Flügelspielerin, Sonette]

Das sind die Brüder, die mit Wiltfeber zum Gauturnen antraten und dabei seinen Spott und Hohn herausforderten. Hier dünkt uns der Dichter menschlicher und der Wahrheit näher. (...)

Die Unvollkommenheiten in Hermann Burtes Werken sind solcher Art, dass man sie verurteilen kann, ohne dem Dichter allzu viel zu nehmen; das Vertrauen zu ihm besteht in voller Kraft weiter. Er strebt nach dem Höchsten, er nimmt sich die Größten zum Vorbilde. Großes ist ihm gelungen, Größeres wird ihm gelingen, wenn sich seine Kunst erst geläutert hat.

Der Name ist ein Pseudonym. Der Rheinwinkel hinter Basel, Johann Peter Hebels Wiesenthal (Blankethal im Wiltfeber ist Burtes Gegend, und er rechnet Holbeins toten Christus im Basler Museum zu den Sieben Wundern seiner Heimat. Ein Basler verlegt seine Bücher. Von Basel sagt Wiltfeber nicht ohne Ergriffenheit, es sei seine geistige Vaterstadt. Von dem, was ihn und sein Volk von uns scheidet, heißt es am gleichen Ort: „Nicht nur im Boden geht die Grenze, stecken die Steine, trennt sich Land von Land: sondern auch zwischen den Hirnen der Leute gleicher Rasse und gleichen Glaubens ist eine Grenzscheide errichtet und vertieft, und sie geht wie alle Grenzen senkrecht bis ins Unendliche."

Gewiss, wir diesseits teilen nicht alle Gedanken dieses Alemannen von jenseits. Und doch heimelt es uns aus seinen Büchern an. Wir fühlen die alte Verwandtschaft heraus, und wir sind umso eher geneigt, zu ihnen zu stehen. Bei Hermann Burte gilt es sich zu entscheiden, Partei für oder wider zu nehmen: wir sind für ihn.

BASEL                                                                                                            ERNST DICK

(Die Besprechung Dicks behandelt noch weitere Werke Burtes; sie sind weggekürzt.)