Brief von Hermann Burte an Walther Rathenau vom 3. Januar 1915

Quelle: Briefkopie im Archiv der Walther-Rathenau-Gesellschaft
Übertragung der Handschrift in Maschinenschrift: Georg Diehl
Kommentar: Harald Noth: Zu Hermann Burtes politischem Denken um 1914/15 - ein bemerkenswerter Brief an Walther Rathenau - hier

Lörrach, Baden
3. Januar 1915
Bergstraße 12

Lieber Freund,

Ihr schöner Brief berührt Dinge und bringt Gedanken, die mir ganz ähnlich schon oft durch den Kopf gegangen sind. Eigentlich froh geworden bin ich dieses Krieges noch nie; auch bin ich nie in die zeit- und landesübliche Kritiklosigkeit verfallen, auf welche die Deutschen jetzt auf einmal so stolz sind. Was mich erstaunt und erzürnt an diesem Kriege, ist der geringe seelische Widerhall, und die furchtbare selbstverständliche Verlogenheit, die er mit sich gebracht hat. Wer zu bedauern wagt, daß wir 8 schöne Schiffe verloren haben, wird als "Miesmacher" angeheult und ihm bedeutet, daß England seine Schiffe nicht bemannen könne. Wohlgemerkt, dieser Patriotismus findet sich nicht nur bei den Insassen bürgerlicher Wirtshäuser, sondern auch bis in die Casinos hinein. Ich rede selber grundsätzlich nicht mehr vom Kriege, ich lese die Zeitungen aller Mächte (in Basel) und finde dann ungefähr die Wahrheit ermittelnd heraus. Der böse Princip(e) wird verdammt, aber "Tell" bleibt ein Nationalheld: ach, Dialektik ist am Ende doch immer vor der Welt das Entscheidende; hoffen wir, daß Gott anders werte. Wir jammern über Belgiens Franctireurs-Krieg, vergessen aber - ach, was ist heutzutage ein schlechtes Gedächtnis für eine solide Grundlage zu einem guten Gewissen! - daß der treffliche (er ist wirklich trefflich und schreibt ausser Luther das beste Deutsch!) Ernst Moritz Arndt die rücksichtslosesten Anleitungen und Aufforderungen zum Kleinkrieg gegeben hat. Von den Reden unserer Professoren will ich noch lieber gar nicht reden: jeder Kriegervereinsvorstand hält ja die gleichen. Ich selber, verdammen Sie mich nicht, gehe des letzten Zieles willen bedingungslos mit: das Schlimmste, die Verletzung der Neutralität Belgiens, erkläre ich mir und andern so: das Deutsche Reich war bei Kriegsausbruch wie ein Saal, um den herum eine Feuersbrunst wütet. Es giebt aus dem Saal nur einen Ausweg ins Freie, durch die Thür mit der Aufschrift: Verbotener Durchgang! Wer wird sich auch nur einen Augenblick besinnen, diese Thüre zu zertrümmern und durchzubrechen? Nicht wahr? -

Ist es Ihre Aufgabe, Rohstoffe zu beschaffen, so ist es meine, Mut und  Willen der Leute in Spannung zu erhalten durch Reden und Gedichte. Es gelingt mir gut. Da diese Sachen alle einen Zweck haben, so kommen sie als Kunstwerke natürlich nicht in Betracht. Also bitte ich um schonende Behandlung! Drucken lasse ich die Deklamationen nicht, aber ein Maschinenschriftabzug wird Ihnen einmal zugehen. Was Sie über unsere Staatskunst und Feldherrnkunst sagen, ist wahr. Wahr ist auch und der einzige höhere Gedanke, der mir bis jetzt von Andern zugekommen ist über unsern Krieg, was Sie über die debellatio sagen: aber ich, offen gestanden, glaube nicht an einen solchen Sieg, obwohl ich natürlich niemals an unsere Niederlage glaube. Ganz im Stillen, in den letzten Geheimfächern des Denkens, überlege ich mir, was für die Deutsche Seele das Heilsamere wäre: ein Siegesrausch oder ein Siegeskater? und lasse die Antwort offen. Ja, verdienen wir auch diesen Sieg (mit ungeheuerem Kraftüberschuß)? Daß unseren Leuten wirkliches Selbtbewusstsein fehlt, wer weiß das besser als ich? Daß jeder Aufsteigende von seinen früheren Genossen am gemeinsten befehdet wird, weiß ich auch. Aber mir scheint, das ist ein allgemeines menschliches Gebrechen. Neun Zehntel aller Menschen haben keine Lust an der Verantwortung: Sie wollen befehligt werden und wollen geführt sein: Sie schimpfen dann, maulen, reden Unsinn zusammen und zahlen doch, haben Mut im Hintergrunde, aber sobald es gilt, klappen sie zusammen, nicht nur vor Erbherrn, sondern auch vor Bürgermeistern, Aufsichtsräten und Mehrheiten. Den besten Beweis für das Bedürfnis der Menschen, der Verantwortung enthoben zu sein, sie andern zuschieben zu wollen, haben Sie in der Sozialdemokratie. Auf die schöne Pose der Fraktion fällt herein, wer will: thatsächlich haben sich die Hirten der Herde angeschlossen, die menschlichen Leidenschaften - Haß, Rauflust, Eitelkeit - sind noch nicht parteipolitisch oder gewerkschaftlich organisiert. Grattez le Sozze et vous trouverez le barbare. Der einzige überzeugungstreue Sozialdemokrat ist Liebknecht, alle andern, Frank am meisten, haben sich ihre Vergangenheit aufs Maul geschlagen. Ein Vetter von mir, Fabrikarbeiter in einer Papierfabrik, hochbegabter Mensch in unbefriedigender Stellung, also Sozialdemokrat, fähig, also Führer in seinem Dorfe, kam bei der Einkleidung zu mir, um Abschied zu nehmen, und sagte mir: Hermann, jetzt bring ich einen Russen am Nasenring! entgegnete ich: Werden die Nasenringe vom Gewerkschaftskartell gestellt, lachte er: Dummes Zeug! Nit rot nit schwarz nit gscheckt *) nit blau, jez simmer alli nobel grau! - (*Gscheckt = scheckig bedeutet die (National)-Liberalen!) -

Für einen Fabrikarbeiter, wie er es ist, bedeutet der Krieg die Entdeckung einer neuen Welt, ja der Welt! Er hat Zeit (Dehmels einziges wurzelhaftes Gedicht ist jenes "Nur Zeit") er hat frei, seine persönlichen Anlagen werden geschätzt, er wird als Gefreiter Unteroffizier, Vorgesetzter, ist (nach Bismarck!) auf seine Tressen erpicht, bekommt das Eiserne Kreuz (für Soldaten ist es eine Auszeichnung, für Offiziere ein Erinnerungszeichen; es haben es z. B. Offiziere, die nie im Felde waren, sondern das Telefon des Stabes in einem Freiburger Luxushotel bedienten), der Großherzog giebt ihm die Hand, die Gemeinde beglückwünscht ihn und sendet eine Spende - herdi, was kann ihm Schöneres geschehen? - fahr ab, oller Mehrwert, ehernes Lohngesetz, Unterernährung, mangelnde Kompensation, Marx rechtgläubig oder Marx reformiert (Franz Oppenheimer), das versteht der Mann nicht, es wirkt nicht in ihm, das sind ihm belanglose Fremdwörter. Selten will er auch ein rechter Kerl sein, Ehre haben, ein Männle sein, wie man sagt, dazu hilft ihm der Krieg. In der menschlichen, unveränderlichen Natur liegt die Erklärung für das von Ihnen Beklagte, nicht in unsern Einrichtungen, wobei ich freilich wieder zugeben muß, daß beide sich bedingen. Was man auch sage: Im deutschen Volke sind herrliche Kräfte verlocht, die Unterschicht ist qualitativ unvergleichlich, der englischen überlegen, nur die schweizerische, glaube ich, ist besser geschult.

Will man Ihre andere Feststellung über die Fehler, Launen und Ungröße des Erbherrn werten, so muß man sich die einfache Frage vorlegen: Wer hätte es besser gemacht? Eines steht fest: die wirkliche letzte Verantwortung liegt nur beim Kaiser. Niemand, kein Reichstag, kein Bundesrat, vor allem kein Kanzler à la Bülow oder Bethmann wird sie ihm vor der Geschichte und vor der Mitwelt abnehmen. Was wir an kriegerischen Einrichtungen haben, ist dem Volke - seinem Reichstage! - nur mit Mühe und mit Concessionen abgerungen worden. Die Mehrheit der deutschen Wähler, Linke aufs erste Linke und Polen und Elsäßer, waren seit Jahrzehnten nicht für eine Vermehrung, Verbesserung und Vorbereitung der Kriegsmittel zu haben. Der Kaiser, menschlich begreiflich, scheut die ständigen Konflikte: nachdem man ihm im November-Rummel den konstitutionellen Knax beigebracht hat, die Unsicherheit gegen seine Kanzler! - und der Zabern-Rummel gegen sein Heer ging, - (Gedächtnis, Gedächtnis!) - ist sein Fall tragisch: Er müßte entweder mit allen Mitteln durchsetzen, was er braucht, um die Verantwortung tragen zu können, oder er müßte sagen: übernehmt Ihr die Verantwortung! Unser Reichstag die Verantwortung für einen solchen Krieg! Ich muß lachen oder heulen, wenn ich daran denke. Parteiführer, die in der Uniform des Offiziers ganz ordinäre Schiebergeschäfte machen (Sunlight, Jasmatzi). Nein!  - So liegt die Sache: Siegen wir, so wird es heissen: Das Volk hat gesiegt, unterliegen wir, wird es heulen: Der Kaiser ist schuld. - Daß Bethmann diese Rede von: Keine Parteien mehr, nur noch Deutsche! halten ließ, ist lange nicht so schlimm, wie Bülows Unsinn, der nach den Blockwahlen 1907 den Kaiser zu den Straßenpassanten über den Wahlausfall sprechen ließ: als wenn ein Wahlausfall den Kaiser etwas anginge, als wenn der Kaiser die Geschäfte nicht ebenso gut von einem liberalen wie von einem  konservativen Ministerium besorgen lassen könnte!! "Könnte" gewiß, er that es noch nicht, wohl aus dem einfachen Grunde, daß ein Monarch nicht gute Leute in das Amt setzen kann, die ihn aus dem seinigen setzen - zu wollen behaupten! "Freiheit für Jeden, der die meine achtet!"  (einen andern Standpunkt kann m. E. ein wirklicher Monarch nicht einnehmen.) Alle diese scheinbar harten Fragen werden praktisch im Leben viel leichter sich lösen als in der kalten mathematischen Theorie.

Würde nach dem Siege, er sei klein oder groß, so schreiben Sie, die behördliche Kinderstube wieder geheizt, so würden Sie Ihr Leben an einem blauen Teich in der Schweiz beschließen. Der Gedanke, Sie könnten einmal hier im Süden wohnen und wirken, eine Art Freienwalde in der Schweiz besitzen, und der gleiche noble Wirt sein wie in der Mark, dieser schöne Gedanke hat für mich etwas so bestechendes und verlockendes, dass ich gerne nach einem Holzhieb in meinem kleinen Wäldlein in den "Stechpalmen", so heißt der Schlag, zur Heizung der Kinderstube beisteuern würde. Rathenau am X-See, Spitteler am Luzerner See, Madelung (?) am Zürisee, Mauthner am Bodensee, ich vielleicht am Titisee, ha, das wäre ein so übler Kriegsgewinn nicht. Für mich. Das ist ja, was mir fehlt, ein reifer, klarer Kopf, ein Mann, eine Art Trainer, der erkennt, wo es dem Gaul fehlt, wo er zu gebrauchen ist, was er geben kann.

Es muß auch nach der Kriege einige europäisch übersichtente Geister geben, denen eine Umfrage "Soll man Shakespeare spielen?" eine Pose und ein "Haßgesang" eine Scham ist. Hassen Sie denn oder ich England? Auch im herrlichsten Sieg muß es ein paar Köpfe geben, die nicht mittaumeln, sondern darauf dringen, daß Fehler gutgemacht, Griffe geändert, Ungerechtigkeiten beseitigt werden: sonst faulen wir in Deutschland noch mehr in uns zusammen als vorher und werden ein europäisches China, mit beknopften Mandarinen, wo Einer unangenehm auffällt, wenn er menschlich frei und ungezwungen leben kann ohne Tresse, Glunker und Trabanten.

Sie, lieber Freund, sind ein Mann, der als Schriftsteller leisten kann was Montaigne; nur haben Sie den ungeheueren Vorteil, dass Sie nicht wie er von den Zitaten und Anekdoten der Vergangenheit her ihre Zeit beurteilen, sondern aus der geahnten, seelisch vorausempfundenen Zukunft heraus. Deshalb haben Sie die Pflicht, uns ihre Bücherreihe zu schaffen, wie ich die Pflicht habe, meine Erde und Menschung in Seele zu wandeln mittels der Worte. Aber ich verhehle mir nicht, dass bei Ihnen, etwa wie bei Dostojewski und Gotthelf, (die ganz auf einem andern Acker wuchsen, andere Seinsformen entfalteten) das Schreiben nichts anderes ist als ein gewandelter Thatendrang. Die Stauung des Blutes erzeugt das Licht der Seele. (Kraftwerk!). Und so weiß ich, fühle ich, dass Sie nicht so schnell, vielleicht in 20 Jahren erst, nach dem Süden kommen, wenn Sie Ihr Werk im Vaterlande gethan haben werden. Ihr Pessimismus im Briefe ist das Bangen vor der nahe fallenden Entscheidung, Ihr Tag und Ihr Triumph ist näher, als Sie ahnen. Es ist nicht möglich, daß ein Mann von Ihren Fähigkeiten lange verborgen bleibe; Sie sind auch bei denen, die Sie als Gegner empfinden, ausserordentlich geachtet, vielleicht ein bischen gefürchtet: der Hecht ist bei den Karpfen selten beliebt. Wenn Sie aber einmal zu Wort kommen, so kommen Sie zu Wort und werden unbezwingbar sein, solange Sie sachlich sind. Wer aber ist sachlich, wenn nicht der Dichter der Mechanik des Geistes? Also: Vorwärts!

Meine Bitte, als Ihres ehrlichen und dankbaren Freundes, der gerade dann, wenn Sie die leidenschaftlich gesuchte Verantwortung gefunden haben, Ihnen Dienste leisten kann, wie die Maus in der Fabel dem Löwen, ist nur die: Vergessen Sie im Glücke den altbadischen Dichtersmann nicht, der immer heimlich und öffentlich ist der Ihre.

Hermann Strübe
(Burte)

P.S. Dieser Brief ist zu lang; er soll aber nicht zum Barbierer mit irgend einem Barte sondern bleiben, wie er ist.