Hans Filbinger
und seine selbstgerechten Richter 

Hans Filbinger (CDU) war von 1966 bis zu seinem Sturz 1978 Ministerpräsident in Baden-Württemberg. Unter seiner Führung legte die CDU bei der Landtagswahl 1976 gegenüber 1972 noch einmal fast 4% zu und erzielte 56,7%. Das ist der höchste Wert, den die CDU in Deutschland jemals erreichte. 1978 sah er sich im Zug einer massiven linken Medienkampagne zum Rücktritt gezwungen - er wollte damit Schaden von der CDU abwenden. Es ging um seine Rolle im Dritten Reich. In der Folgezeit bis zu seinem Tod 2007 und selbst danach flammte die Polemik gegen den rechtskonservativen Politiker immer wieder auf, sei es in Presseartikeln, sei es in Leserbriefen. Eine solche Kampagne wurde auch 2003 in Freiburg losgetreten, als der Politiker zu seinem 90. Geburtstag geehrt werden sollte. Daran knüpft der folgende Artikel an.

Filbingers Mitgliedschaften - ein verfänglicher Aufsatz - Blick in den Spiegel - die Richter am Werk - Wette und Filbinger - Ordnung oder Chaos nach der Kapitulation? - Filbingers Schuld - Kniefall nach Rufmord? - "Was damals Recht war, kann heute nicht Unrecht sein!" - Schluss: Wer selbst ohne Schuld ist ... - aus Filbingers Marschgepäck

 

Die gemeinste Form der Lüge ist die halbe Wahrheit.

Eine Erklärung für meine politischen Freunde

Im Freiburger Historischen Kaufhaus gab es am 14. 9. 2003 eine Veranstaltung mit über 300 Teilnehmern, dort brach der Militärhistoriker Wolfram Wette unter dem  Motto "Was damals Unrecht war, kann heute nicht Recht sein" erneut der Stab über Hans Filbinger.

In den späten 70er Jahren, als Filbinger als Ministerpräsident und angeblicher ehemaliger Nazi-Richter abgesägt wurde, war ich in Berlin und kümmerte mich nur am Rande um den Fall. Ich dachte mit Genugtuung: Gut, dass der alte Nazi wegkommt. Ich stand auf der Seite seiner Gegner in der Anti-AKW-Bewegung, auf Seiten der Betroffenen der "Berufsverbote" usw.

Damals wie heute gehörte ich nicht zu den politischen Freunden des baden-württembergischen Politikers. Doch bin ich im Laufe von weit über 30 Jahren intensiven Beobachtens des politischen Lebens und menschlicher Charaktere zur Erkenntnis gekommen, dass man einen Charakter in verschiedenen Phasen seines Lebens und innerhalb der konkreten Umstände ansehen muss und nicht einfach von einer Phase, etwa den 70er Jahren, auf andere, etwa die Jahre 1933 bis 1945, schließen darf, à la: Wer 1975 die Regierungsinteressen mit Messer und Zähnen verteidigt (Stichwort Wyhl), muss dies auch von ganzem Herzen im 3. Reich getan haben. Man darf ein Handeln im Faschismus oder Krieg nicht so beurteilen, als hätte Demokratie oder Frieden geherrscht. Man darf auch nicht davon ausgehen, als habe einer 1933 oder 35 das Ergebnis des deutschen Faschismus gewusst - wir heute wissen es. Im unzulässigen Rückschluss von heute auf früher und in der Abstraktion von den Zeitumständen liegen zwei Grundfehler von Wolfram Wette und anderen.

Die Mitgliedschaften

Der schlimmste Fehler des Militärhistorikers Wettes ist aber, dass er mit den Tatsachen selektiv umgeht. So führt er die verfänglichen Partei- und Organisationsmitgliedschaften Filbingers auf und baut auf die Unwissenheit seiner "jungen" Zuhörer und Leser. Ein SA-Mitglied wird schon ein Schlächter gewesen sein. Aber diese Mitgliedschaften haben bei Filbinger und etlichen anderen nur formell bestanden - vielleicht auch im erst jetzt bekannt gewordenen Fall des Moralisten und Antifaschisten Walter Jens. Ein Studium (und die Zulassung zu Prüfungen) wäre ohne Mitgliedschaft für Filbinger und viele andere kaum möglich gewesen. Sicher, Filbinger hätte Bäcker oder Müller werden können, dann wäre er vielleicht um das Organisationsproblem  herumgekommen. Aber er wollte Jurist werden, gerade seine Gegner müssten das verstehen, die häufig Akademiker sind.  Für Filbinger kam erschwerend hinzu, dass er wegen seinen katholischen Aktivitäten als "politisch unzuverlässig" galt und dass er Stipendien brauchte, weil sein Vater arbeitslos bzw. frühpensioniert worden war. So trat der 19-jährige Student am 1. Juni 33 der Studenten-SA bei; drückte sich aber, ließ sich beurlauben, wo es ging - es ging meistens, aber nicht in jedem Fall. In der Oktober/November-Nummer 1933 der  "Werkblätter" schreibt er einen Bericht über den "Jüngerenkreis" des Hochschulrings des katholischen Bund Neudeutschland, dem er angehörte - da herrschte katholische Feuerzangenbowlen-Romantik, meilenweit von nazistischen Umtrieben entfernt. Davon erfahren wir von Wette nichts. Dass Filbinger als Student in der SA (sowie im NS-Studentenbund)  und 1937, nach dem Examen, in der NSDAP nur Karteileiche war und in Kreisen der geistigen Opposition (Reinhold Schneider, Karl Färber, Max Müller, Erik Wolf u.a.) verkehrt hat und geachtet war, unterschlägt Wette ebenfalls. 1937/38 hielt sich Filbinger in Paris auf, um, wie er sagt, dem "immer stärker werdenden Druck des Regimes zu entgehen". Die ganzen Vorbringungen von Wette sind durch Filbinger selbst - in seinem Buch "Die geschmähte Generation" - widerlegt oder relativiert, wo Zeitzeugen, Dokumente usw. sprechen. (2) Dennoch sind gerade die Mitgliedschaften bei Filbinger etwas knapp, ich finde, zu knapp, abgehandelt. Man kann sich hier mit Hugo Ott behelfen. Zusammen mit Heinz Hürten und Wolfgang Jäger hat dieser eine historische und politologische Analyse des "Falles" Hans Filbinger erstellt. Die drei Autoren sind Akademiker wie Wette, kommen aber zu einem völlig anderen Ergebnis als dieser. Diese und weitere Literatur siehe Fußnote (3)

Ein verfänglicher Aufsatz

Nach Filbingers Mitgliedschaften in NS-Organisationen führte Wette dessen zweiten Artikel in den "Werkblättern" an - den ersten, oben erwähnten verschwieg er. Zu diesem Artikel soviel (ich folge jetzt z. T. Hugo Ott): In den Jahren 1933 bis 36/37 hatte man in katholischen Kreisen die (abnehmende) Hoffnung, mit dem nationalsozialistischen Staat klar zu kommen, wollte man versuchen, systemintern etwas zu erreichen und u.a. einer Zerschlagung der organisierten Kirche zuvorzukommen oder wenigstens die Freiheit zu bewahren, überall christliche, katholische Positionen vertreten zu können. Bei einer zur Schau gestellten Fundamentalopposition wäre dies nicht möglich gewesen, so herrschte die Einschätzung. Ohne den NS-Staat gewollt zu haben und ihn zu lieben, versuchte man also, ihm etwas Positives abzugewinnen. Und manch einer fand auch diesen oder jenen "positiven" Aspekt, z. B. den Arbeitsdienst, den er aber lieber von einer vertrauenswürdigeren Partei und Regierung als der von Hitler umgesetzt gesehen hätte. Manche wollten somit die Nazis mitmarschierend in eine andere, nichtaggressive Richtung drängen. Das mutet uns heute, aus der Zurückschau, lächerlich an. In diesem Zusammenhang ist der zweite, kurze Artikel des 21-jährigen Studenten Filbinger  in der katholischen Zeitschrift Werkblätter, März/April 1935, zu sehen. Dieser Aufsatz mit dem Titel "Nationalsozialistisches Strafrecht" referiert einfach die (damals noch nicht in Kraft getretene) NS-Strafrechtsreform und gebraucht die entsprechenden nationalsozialistischen Phrasen. Kritik an der Reform ist für mich als nach dem 2. Weltkrieg geborener nicht zu erkennen. Es gibt aber auch keine Hymnen auf Hitler und die Partei, das Wort Jude kommt nicht vor. Die gedämpfte Stimmung des Artikels (und anscheinend Filbingers, des Verfassers) ist: So ist das jetzt halt, 's wird schon was Rechtes draus werden. Filbinger gibt heute an, die Strafrechtsreform nur referiert, aber deren Grundsätze sich nicht zu eigen gemacht zu haben.

Wie dem auch sei: Ebenfalls arrangiert, meist aber weniger plump, scheinen sich auch andere, entwickeltere Geister als der 21-jährige Filbinger zu haben, so der Rechtsphilosoph Erik Wolf. Doch die Distanz dieser Kreise zu  Staat und Ideologie des Nationalsozialismus wurde immer größer. Wolf, ein Lehrer und Vorbild Filbingers, schrieb ein Werk von 1934 ("Richtiges Recht und evangelischer Glaube"), das versuchte, Nationalsozialismus und evangelisches Christentum in ein "positives Beziehungsverhältnis" zu bringen, für die Auflage 1937 um; er engagierte sich jetzt in der "Bekennenden Kirche", die Offenheiten zum Nationalsozialismus sind in der neuen Auflage weg. Die Doktorarbeit Filbingers, "Die Schranken der Mehrheitsherrschaft im Aktienrecht und Konzernrecht" von 1939, erschien 1942 im Druck - er war jetzt schon Soldat. Diese Dissertation wird heute von niemandem moniert. Seine Gegner haben sie sicher nach Verfänglichem abgesucht und nichts gefunden; ich bin froh, es mir ersparen zu können. Filbinger behauptet übrigens, der Verleger habe ihm nahegelegt, die von ihm zitierten jüdischen Juristen zu streichen, um sich Ärger zu ersparen. Filbinger will dies aber in einem Feldpostbrief zurückgewiesen haben; die betreffenden Autoren sind jedenfalls noch drin. Die zunehmende Distanz seiner Freunde aus dem Freiburger Kreis um Schneider und Färber zum Nationalsozialismus blieb den Nazis nicht verborgen: Nahezu alle aus dem Kreis waren Schikanen, "Berufsverboten", Verhaftungen ausgesetzt.

Blick in den Spiegel

Der junge Student Filbinger scheint sich wie seine Mentoren dem Geist der "Bewegung" eine Zeit von zwei, drei Jahren lang nicht ganz entziehen gekonnt oder gewollt zu haben, so verstehe ich seinen Artikel. Dabei ist zu bedenken, dass damals ein geistiger Druck herrschte, der uns heute nicht mehr vorstellbar ist. Im öffentlichen Druck und der Angst der Tage nach dem 11. September 2001 habe ich oft fragend an 1933 gedacht - wie war es damals? Sechs Millionen Arbeitslose und ihre oft großen Familien konnten häufig nicht einmal trockenes Brot und schon gar nicht die Miete ihrer übervölkerten Wohnungen bezahlen. Die politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse schrieen nach radikaler Veränderung. Diese versprachen KPD und NSDAP. Übrig blieb 1933 letztere. Die nationalsozialistische Bewegung war zunächst einmal gegen die Altparteien, das politische Establishment der Weimarer Republik gerichtet, an dem an der Basis, egal ob links, rechts oder in der Mitte,  fast niemand mehr etwas Gutes fand; sodann gegen Arbeiterbewegung und KPD, deren Bestrebungen die Nazis mit ihrer (national)sozialistischen Phraseologie nun selbst zu vertreten schienen. Die 6 Millionen ermordeten Juden und die 52 Millionen Weltkriegstoten lebten noch. Die NS-Bewegung hat zugleich verängstigt und gefangen genommen.

 Hier muss jeder Kritiker Filbingers, wenn er ehrlich ist, an sich selbst denken, an seine eigene geistige Reichweite und Standfestigkeit als 21-Jähriger. Danach wird eine pharisäerhafte Verurteilung des jungen Filbinger nicht mehr möglich sein.1968 waren die politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse im Inland im Vergleich zu 1933 paradiesisch. Doch fast jeder in der Studentenbewegung begeisterte sich für die chinesische Kulturrevolution; deren Exzesse lasen sich in den Broschüren, die auf Deutsch aus Peking kamen, als unblutiger, erfrischender Streit auf geistigem Gebiet, als jugendlich-alternativer Gesellschaftsentwurf. Ich hatte damals das magische Alter von 19 und versuchte, irgendwo mitzumachen. Nach 68 traten die  Mentoren, die ich mir suchte, für die Diktatur des Proletariats ein, andere für etwas anderes, aber kaum einer war zimperlich. Der heutige Außenminister agierte in der Spontiszene, warf Steine auf "Bullen" und besuchte einen Kongress der PLO, die damals die Israelis noch ins Meer werfen wollte. Berichte über den stalinistischen Terror haben wir nicht geglaubt, für "konterrevolutionäre Propaganda" gehalten oder aber den Terror als "schweren Fehler" auf einem an sich richtigen Marsch empfunden. Für diejenigen Gruppen und Parteien, die Breschnew und Honecker die Stange hielten, empfanden wir Abscheu. Die Fotos in "China im Bild" fanden wir wunderschön und hielten sie für bare Münze. Mit Pol Pot übten wir Solidarität, bis und während er an der Macht war; die Schädelberge hat man erst gesehen, als er wieder weg war. Für die ZANU, die Freiheitsbewegung Mugabes in Zimbabwe haben wir Blut gespendet, Uhren und Brillen gesammelt - aus dem ehemaligen Freiheitskämpfer ist seit langem ein autokratischer und krimineller Herrscher geworden. Unsere Beschränktheit und ein gütiges Schicksal hat uns in den maoistischen und ähnlichen Gruppen davor bewahrt, dass wir mit unseren revolutionären Programmen an die Macht kamen. Inzwischen sind aber etliche von uns, die den Weg durch die Institutionen beschritten haben, in höchsten Ämtern in Staat, Regierung und Medien. Als das militante Agieren, das der Außenminister in seinen stürmischen Jahren an den Tag gelegt hatte, über Titelseiten und Bildschirme ging, wurden Rücktrittsforderungen laut, doch der Sturm legte sich nach wenigen Tagen wieder, sind doch in fast jeder Redaktionsstube etliche Zeitgenossen, die 1968 ff. als Teilnehmer der Bewegung erlebt haben und mit Fischers studentischen Verfehlungen gerne Nachsicht üben. Auch die gemäßigte Linke war nicht zimperlich, wie eben ihre Kampagne zeigt, die zum Sturz Filbingers geführt hat. Nicht nur Steine, auch Worte können treffen. Viele von ihnen sind nicht gemäßigt von erster Stunde an gewesen, sondern (wie ich) im Laufe ihrer Entwicklung erst geworden.

Ist bei uns nachgeborener Generation wenigstens die gereifte Praxis besser als die jugendliche Theorie? Ein Teil der damaligen Bewegung ist jetzt an der Macht, gewählt von fast allen ehemaligen 68ern und vielen Teilnehmern der Nachfolgebewegungen. Mit Schröder und Fischer an der Spitze, unter frenetischem Beifall der Schwarzen und Gelben, reihte sich fast die ganze grüne und rote Regierungsfraktion im Bundestag in Bushs Antiterrorkoalition ein, und wollte - ja, will immer noch - Bush durch Mitmarschieren in eine andere Richtung drängen, hin zu weniger Bomben, mehr Entwicklungshilfe usw. Es ist lächerlich, aber wahr. So leistet man immer noch militärische Hilfsdienste für den Ami in Afghanistan, baut die Bundeswehr zur weltweiten Interventionsarmee um. Auch der Irakkrieg wurde durch Überflugrechte usw. unterstützt. Man agiert aber nicht nur im amerikanischen Dienst, sondern verfolgt immer auch Eigeninteressen - das zeigte sich schon 1999 bei der von der rot-grünen Regierung geforderten und unterstützten Bombardierung Rest-Jugoslawiens durch die NATO. Auf sozialem Gebiet macht man gerade einen Kahlschlag - mit Arbeitslosen, Kranken und Rentnern als Hauptopfer. Ilona Plattner von Attac sagte am 1. 11. 2003 vor 100.000 Menschen in Berlin: "Rot-Grün ist verantwortlich für das gigantischste Verarmungsprogramm, das dieses Land je gesehen hat." Filbinger schickte 1975 Polizeitruppen auf das AKW-Gelände in Wyhl. Fischröder vermittelt heute den Export von Atomtechnologie nach China und ist drauf und dran, ihn zu gestatten. Dort werden selten Polizeitruppen geschickt; der Geheimdienst erstickt eine freie Meinungsbildung oder gar Proteste schon im Keim. Ein Großteil der rot-grünen Basis schaut dem allem mit gemischten Gefühlen zu; aber solange ihm ein Buhmann gezeigt wird - heiße er nun Filbinger, Stoiber, die Neonazis oder Bin Laden - marschiert er immer noch mit und wird es vielleicht ewig weiter tun. Wenn Anhänger der Regierungsparteien Siemens die Atomanlage abkaufen wollen, um Fischer und Schröder vor dem Sündenfall zu bewahren, ist das das Ende der Politik und der Beginn der Seifenoper.

Warum dieser Abstecher in Gefilde linker, alternativer, grüner Politik? Es soll nicht bestritten werden, dass unser Land vor gigantischen, schwierig zu lösenden Problemen steht, Problemen, die übrigens durch die gesellschaftliche Entwicklung seit 68 und früher und durch die von jedweder bundesrepublikanischen Regierung jahrzehntelang mit vorangetriebenen Globalisierung entstanden sind. Es soll nicht gesagt werden, dass die Linke und nur die Linke immer alles falsch macht. Es geht nicht darum, jeden linken Ansatz zu verneinen: Das Eintreten für die Benachteiligten und Rechtlosen im Land und in der Welt halte ich nach wie vor für ein zwingendes Gebot - es ist übrigens nicht nur ein linkes, sondern auch ein christliches (siehe Anmerkung (4)). Es geht allein darum, sich vor Selbstgerechtigkeit zu schützen. Dazu ist der Blick in den Spiegel unabdingbar. Das wissen auch die klügeren unter den Anklägern und Richtern Filbingers. So sagte Walter Moßmann im Historischen Kaufhaus in Freiburg (zitiert nach BZ-online):

"Ein großer Teil der damaligen Ankläger stammt aus der sogenannten 68er Generation. (...) Ich denke, das abschreckende Beispiel von Filbingers Selbstgerechtigkeit sollte uns veranlassen, unsererseits einen anderen öffentlichen Umgang mit Fehlern und Irrtümern in unseren eigenen politischen Biografien zu finden, ich meine zum Beispiel: Solidarität mit Diktaturen, auch Partei-Diktaturen, Beschönigung von Unterdrückung und Terror im eigenen Lager etc. Damit nicht irgendwann gesagt werden kann: Im Fall Filbinger sind zwei Selbstgerechte aufeinandergeprallt."

Diese Hoffnung Moßmanns wird sich durch einen Spagat, wie er ihn macht, nicht erfüllen: Einerseits klopft man sich an die Brust und ruft laut mea culpa, meine Schuld. Andererseits weigert man sich weiterhin, dem durch linken Psychoterror geschädigten Filbinger Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Man bewirft ihn immer weiter mit Dreck.

Die Richter am Werk

Hans Filbinger wurde acht Jahre nach seinem Aufsatz gegen seinen Willen (das ist dokumentiert) in den Marine-Justizdienst abkommandiert. Es hätte Alternativen dazu gegeben, und viele, aber nicht sehr viele Deutsche haben sie gewählt: Ins Ausland gehen (= desertieren) und/oder ins Zuchthaus, KZ und/oder in den Tod gehen. Aber Filbinger war kein Revolutionär und spielte nicht mit seinem Leben. Oder tat er es doch, als er, um dem Justizdienst zu entgehen, sich am 5. 2. 1943 freiwillig, aber vergeblich, zu den schwimmenden Särgen, den U-Booten meldete? (Siehe dazu zwei Dokumente.)

Im Marine-Justizdienst - ich folge jetzt z.T. Heinz Hürten - war Filbinger an das Marinestrafgesetzbuch von 1872 gebunden, das auch in der Weimarer Demokratie in Kraft war, jetzt aber verschärft durch die neue "Kriegssonderstrafrechtsverordnung", die u.a. den Tatbestand "Wehrkraftzersetzung" einführte. Zu dem schon 1872 eingeführten und mit dem Tod bedrohten Strafbestand "Fahnenflucht" gab es 1940 "Führerrichtlinien", die den Strafbestand präzisierten. 1943 trat eine Verschärfung ein, als der Oberbefehlshaber der Kriegsmarine in einem Erlass als Regel die Todesstrafe forderte. Die Militärrichter waren aber zu allermeist keine nazistischen Scharfmacher, sondern Juristen, die schon in der Weimarer Republik im Justizdienst gestanden hatten.

 Vielen, die sich in die Diskussion um Filbinger einmischen, scheint der Unterschied zwischen Anklagevertreter und vorsitzendem Richter beim Militärgericht nicht klar zu sein. Nun, die Anklagevertreter waren so etwas ähnliches wie Staatsanwälte, waren aber gegenüber dem Gerichtsherrn - dem dazu bestimmten militärischen Befehlshaber - weisungsgebunden, hatten seine Vorgaben zu befolgen. Ein und derselbe Richter konnte in einem Verfahren zum Anklagevertreter bestimmt sein, in einem anderen zum vorsitzenden Richter, der also in der Hauptverhandlung den Ankläger und den Verteidiger zu hören und alle Fakten abzuwägen, Zeugen zu befragen und dann ein Urteil zu sprechen hatte. Diesem "erkennenden" Richter waren zwei militärische Beisitzer zugeordnet. In der Funktion als Ankläger dagegen konnte niemand Urteile sprechen, auch nicht Filbinger. Doch war der Ankläger Untersuchungsführer, leitete die Vorermittlungen und konnte hier in gewissen Grenzen Weichen stellen. Und diese Weichen wurden in der Praxis der Militärjustitz nicht selten in für den Angeklagten vorteilhafte Weise gestellt.

 Nach Filbingers eigenem Bekunden ist nie jemand durch ein richterliches Urteil von ihm zu Tode gekommen. Wette dagegen nennt das Beharren Filbingers auf der Unterscheidung 'Ankläger' und 'Richter' einen "verbalen Kunstgriff", mit dem Filbinger Verantwortung am Tod "schwächlicher, unmilitärischer Soldaten" leugnen wolle.

Im Fall des Matrosen Walter Gröger war es so: Er war schon Ende 43 einmal beinahe zur Todesstrafe verurteilt worden, der damalige Ankläger (nicht Filbinger) hatte sie verlangt. Aber der Verteidiger und die Richter versuchten das Todesurteil mit juristischen Haarspaltereien (das ist nicht negativ gemeint) und damit zu umschiffen, dass Gröger ja das Eiserne Kreuz erworben habe usw. und sprachen Zuchthausstrafe statt Tod aus. Doch der Gerichtsherr - Generaladmiral Schniewind - hob das Urteil auf und beharrte auf der Todesstrafe. Das Schiff, auf das Gröger abkommandiert war (und nicht hinging), war kurz nach seiner "Fahnenflucht" mit 1900 Mann von den Engländern versenkt worden, nur 36 wurden gerettet. Die Nerven des Gerichtsherrn lagen blank. Filbinger hatte das Pech, dass er im zweiten Prozess gegen Gröger im Januar 45 plötzlich als Ankläger bestimmt wurde, obwohl er mit dem Fall vorher nicht befasst gewesen war - die Vorermittlungen hatte ein anderer, nämlich der ursprünglich vorgesehene Ankläger geführt. Und dieser hatte festgestellt, dass sich die Sachlage für Gröger noch verschlimmert hat: Es hatte sich u.a. herausgestellt, dass Gröger das EK II nicht verdient hatte; die Jacke mit den zwei Orden, die er trug, gehörte einem anderen. Filbinger musste nun, wie schon der vorausgehende Anklagevertreter, wieder die Todesstrafe fordern. Der Richter und seine zwei Beisitzer (und nicht der Ankläger Filbinger) haben Gröger dann zum Tod verurteilt. Werner Schön, der Verteidiger Grögers, "ein Marineoberstabsintendant, der auch in anderen Fällen mit Hingabe und Hartnäckigkeit für seine Klienten eintrat" (Hürten), reichte ein ausführliches Gnadengesuch an den Oberbefehlshaber der Kriegsmarine ein, dieser bestätigte jedoch das Todesurteil. Verteidiger Schön erinnerte sich später nicht mehr an den Ankläger. Er schrieb am 4. 8. 1978 in der Zeit:

"An den Anklagevertreter (Filbinger) habe ich überhaupt keine Erinnerung. Wahrscheinlich, weil ich den wiederholten Antrag auf Todesstrafe nicht anders erwartet hatte, und der Ankläger, da die Fakten des Falles bereits in der ersten Verhandlung geklärt waren, wohl nur die Rolle eines Statisten hatte."

Prof. Dr. Wolfram Wette fragt nun,

"ob Filbinger damals anders hätte handeln können, wenn er denn gewollt hätte. Die Antwort lautet: Im Prinzip ja! Aber dann hätte er eine Portion Zivilcourage zeigen müssen, die ihm wesensfremd war. Er hätte dem Gerichtsherrn bzw. dessen juristischen Beratern sagen können, er halte das erstinstanzliche Urteil nach wie vor für ausreichend, und er hätte dieses Votum mit dem unsoldatischen Charakterbild des Matrosen begründen können. Ein abweichendes Votum dieser Art hätte ihm jedenfalls keine Nachteile gebracht. Es ist nämlich kein einziger Fall bekannt, dass ein Militärrichter oder Ankläger, der den Vorgaben seines Gerichtsherrn nicht folgte, persönlich gemaßregelt worden wäre. Entgegen späteren Behauptungen Filbingers gab es diesen Handlungsspielraum sehr wohl. Aber er wurde von dem Konformisten Filbinger weder gesucht noch genutzt, weil er die Todesstrafe für diesen "hoffnungslosen Schwächling" - so hatte ihn sein direkter Vorgesetzter bezeichnet -, grundsätzlich für richtig hielt. Gröger hatte eine ganze Latte von militärischen Vorstrafen und schien für die kämpfende Volksgemeinschaft ohne Wert zu sein. Warum sollte Filbinger einen solchen Mann zu retten versuchen?"

Die von Wette vorgegebenen Vorstellungen von dem oft als "NS-Militärjustiz" bezeichneten Laden sind erstaunlich: Da war der Handlungsspielraum groß, keiner kriegte Ärger, wenn er den Vorgaben des Gerichtsherrn nicht folgte, die Menschen mit unsoldatischem Charakterbild (das sind, nach meiner Schätzung, 60 oder mehr % der Soldaten) konnten mildernde Umstände kriegen, wenn sie desertieren, nur manchmal schlug halt ein Ekel wie Filbinger zu ... Fragt sich nur, wozu er "Zivilcourage" brauchte, wenn es "keine Nachteile" gab ...

Es ist richtig, die Richter waren zunächst keinen Schikanen für milde Urteile ausgesetzt, ihre Urteile wurden jedoch aufgehoben, wenn der Gerichtsherr sie für falsch hielt. Das erste Urteil gegen Gröger war wegen Milde vom Gerichtsherrn aufgehoben. Filbinger hätte nun, wo sein Vor-Ankläger schon auf Todesstrafe plädiert hatte, bei der Verschlechterung der Sachlage (EK II vorgetäuscht) auf Zuchthaus plädieren können? Wo sind wir, Herr Wette?

Der Militärhistoriker scheint selbst nicht recht der Tragfähigkeit seiner Argumente vertrauen zu können, wenn er meint, noch solchen psychologistischen Hokuspokus nachsetzen zu müssen:

"Einen späten Beleg für diese menschenverachtende Grundeinstellung lieferte Dr. Hans Filbinger noch im Jahre 1995. In dem erwähnten Leserbrief, den Filbinger seinen Rechtsanwalt Hammerstein veröffentlichen ließ, heißt es wörtlich: "Der Matrose G. war in Norwegen fahnenflüchtig geworden." Er bezeichnet den Matrosen Walter Gröger also auch noch 50 Jahre nach dessen Erschießung als "Matrosen G." - Ge Punkt! - nannte nicht einmal seinen vollen Namen - als Symbol für den ganzen Menschen -, und verweigerte ihm damit einmal mehr den Respekt. Seine Gewährsleute dagegen, Angehörige der bundesrepublikanischen Führungselite, führte er mit Vornamen, Nachnamen und allen Titeln auf. Ich lese diese Sätze als ein Indiz für die Verachtung, die Hans Filbinger damals für den Deserteur Gröger hegte und offensichtlich noch heute hegt, für diesen kleinen Mann in Uniform, der nicht funktionierte, wie Hitlers Wehrmacht und die Militärrichter es wünschten."

Normalerweise genießen Angeklagte und Verurteilte Persönlichkeitsschutz, ihr Namen wird nicht öffentlich genannt, auch ihre Angehörigen sind dadurch geschützt. So heißt etwa der durch die Presse bekannte, vielfach straffällig gewordene Münchner Jugendliche Mehmet in Wirklichkeit anders. In vielen Fällen setzen sich Bildzeitungen und Hobbyrichter über diesen Schutz hinweg, sodass ein öffentliches Bewusstsein dafür gar nicht mehr gegeben ist. Bei Walter Gröger war davon auszugehen, dass es seinen Angehörigen vielleicht nicht Recht ist, wenn seine Desertion und seine "ganze Latte militärischer Vorstrafen" durch die Presse gehen. Die Kriegsteilnehmer und Zeitzeugen, von denen noch ein paar Millionen leben, wissen, dass "militärische Vorstrafen" nicht nur wegen antifaschistischem Widerstand erfolgten. Bei Gröger handelte es sich um 14 Verfehlungen teils disziplinarischer, teils krimineller Art. Der 1940 als Freiwilliger der Marine beigetretene Matrose war kein "Kriegsdienstverweigerer" im politischen Sinn. Der volle Name von G. wurde jedenfalls erst von Rolf Hochhuth, dem Chefankläger gegen Filbinger, veröffentlicht, der dazu die Erlaubnis der Mutter Grögers eingeholt haben will (Spiegel, 11. 6. 78). Filbinger nannte danach den nun einmal veröffentlichten Namen in seinem Buch und sonstwo viele duzende Male in voller Länge, so sagte er auch im Interview mit der Badischen Zeitung vom 15. September 2003, ohne dass der Interviewer den Namen vorgegeben hätte: "Mit dem Tod des Matrosen Gröger hat der Filbinger null zu tun gehabt im Sinne einer Verantwortung. Er war nur Statist am Ende eines Verfahrens, wie der Verteidiger Grögers betonte." In dem monierten Leserbrief aber scheint der Schreiber an der juristisch korrekten Form festhalten gewollt zu haben, und die ist halt "G." Noch dazu ist der Schreiber dieses Briefes Rechtsanwalt Hammerstein, nicht Filbinger. Aus dieser Sache Filbinger einen Strick drehen zu wollen ist lächerlich.

Es sind mehrere Fälle belegt, wo Filbinger innerhalb des Rahmens des Möglichen Leute gerettet oder ausgesprochen mild abgeurteilt hat. Dies war namentlich dann möglich, wenn er selbst vorsitzender Richter war und Urteil gesprochen hat. Auch als mit den Vorermittlungen betrauter Ankläger hatte er im Prinzip Möglichkeiten, nach Entlastendem zu suchen - im Fall Gröger aber nicht, dort hat ein anderer die Vorermittlungen geführt. Es hat sogar Fälle gegeben, wo Filbinger anderen "hineingepfuscht" hat, so im Fall Möbius: Der als scharf bekannte Marineoberstabsrichter Rüger (damals Vorgesetzter Filbingers) hatte den Militärpfarrer Möbius Oktober 44 wegen Wehrkraftzersetzung zweifach zum Tode verurteilt. Filbinger, den dieser Fall nichts anging, erfuhr davon, hielt ihn dem Vorgesetzten vor - vergeblich - und machte dann außerhalb jeder Gepflogenheit das Oberkommando der Kriegsmarine auf Verfahrensfehler des scharfen Richters aufmerksam - womit er sich sehr, sehr weit aus dem Fenster lehnte. Er schrieb mit Möbius einen Wiederaufnahmeantrag, in dem Zeugen benannt und Möbius als kämpferischer und regimetreuer Soldat dargestellt wurde. Darauf erfolgte die Aussetzung der Todesstrafe und ein Wiederaufnahmeverfahren, das sich über die Kapitulation hinauszog und Möbius rette. Anstatt solche Fälle zu erörtern, unterschlägt Wette sie in seiner Kaufhausrede und in der Frankfurter Rundschau. Nur auf einen Fall geht er ein:

"Vor wenigen Tagen (10. 9. 03) stellte Filbinger in Stuttgart einen ehemaligen Wehrmachts-Oberleutnant namens Guido Forstmeier vor, der aussagte, nur dank des Einsatzes von Filbinger sei "ein sicheres Todesurteil" gegen ihn verhindert worden. Damit bestätigte er einmal mehr, dass es für einen Marinerichter Handlungsspielräume gegeben hat. Nun denn: Warum hat er es im Fall Gröger an diesem Einsatz fehlen lassen?"

Wette wirft Filbinger einen Fall vor, wo es für ihn keinen Handlungsspielraum gab (Gröger) und verschweigt die Fälle, wo Filbinger den Spielraum zugunsten der Angeklagten genutzt hat (4a). Den Fall Forstmeier kann er nicht völlig vom Tisch kehren, denn die Fernsehzuschauer haben diesen Mann ein paar Tage vorher gesehen und gehört. Aber auch auf diesen Fall geht Wette nicht inhaltlich ein, sondern verwendet ihn bloß als Bumerang gegen Filbinger - siehe Zitat. Forstmeier ist übrigens von Filbinger am 19. 9. nicht frisch aus dem Hut gezaubert worden, sondern er ist wohl einfach der einzige Entlastungszeuge, der noch lebt. Abgehandelt hat Filbinger den Fall Forstmeier und andere entlastende Fälle - Möbius, Krämer, Prößdorf und den Fall K. H., der am 1. 6. 45 verhandelt wurde - schon in seinem Buch 1987.

Abschließend, nachdem er nur auf den Fall Gröger wirklich eingegangen und selbst da völlig beliebig mit den Fakten umgesprungen ist, fällt Wette ein vernichtendes Urteil ("Zusammenfassende Bewertung"). Darin heißt es:

"Er hat sich in der Rolle des Militärrichters genau so verhalten, wie es die militärische und politische Obrigkeit des NS-Staates von ihm erwartete. Er hat sich auch das von der NS-Ideologie geprägte Soldatenbild zu eigen gemacht und selbst - aus seiner Herrenmenschen-Mentalität heraus - dazu beigetragen, dass schwächliche, unmilitärische Soldaten aus der kämpfende Volksgemeinschaft "ausgemerzt" wurden. Zumindest wenn es um diese kleinen Leute in Uniform ging, hat Filbinger kein Bemühen und keine Zivilcourage gezeigt, hat nicht gerettet, sondern ganz konform NS-Unrecht gesprochen, wie es damals von ihm verlangt wurde. Es ist auch nicht zu erkennen, dass er sich damit schwer getan hätte. Filbinger war ein "furchtbarer Jurist", insoweit, als er ein ganz normaler NS-Militärrichter war."

Die Herrenmenschen-Mentalität usw. des Marinerichters Filbinger ist nicht belegt, sondern von Wette zusammenphantasiert. Seine Behauptungen sind Rufmord.

Wette und Filbinger

Wolfram Wette geht mit der Wahrheit selektiv um. Er will vernichten anstatt Wahrheit finden. Das behaupte ich aus meinem Eindruck, ich kann und will aber nicht alles erschöpfend darstellen und widerlegen. Wer die Wahrheit sucht, muss sich nicht nur mit der Anklage (Hochhuth, Wette et alii), sondern auch mit den Einlassungen des Angeklagten - also Filbingers - und seiner Anwälte befassen, und darf sie nicht von vorneherein als Schutzbehauptungen abtun. Ich kann und will keinem ersparen, Filbingers Buch und das von Jäger, Hürten und Ott  sowie das von Neubauer zu lesen. Wer Filbingers "Die geschmähte Generation" liest, muss aber die Nerven haben, sich allerlei Vorwürfe gegen die Linke anzuhören - berechtigte und unberechtigte. Der konservative Politiker versteht die Linke so wenig wie sie ihn.

Ich habe von Hans Filbinger als Militärrichter den Eindruck gewonnen, dass er sich dem System im Rahmen seiner Möglichkeiten bis zum Schluss widersetzt hat. Die Widersetzung eines Militärrichters konnte nicht so laufen, wie es viele seiner Gegner vielleicht meinen, dass er den Nazis sagte: "Ich plädiere oder urteile jetzt mal nicht so, wie ihr faschistischen Scheißer es gerne hättet!" Sondern die Widersetzung hatte sich der Sprache und den Argumenten des Systems zu bedienen und wenn der gerade Weg nicht möglich war, waren verschlungene Pfade zu gehen. Und was an einem Ort mit den und den Kollegen und Vorgesetzten möglich war, war an einem anderen Ort vielleicht nicht möglich oder umgekehrt. Freilich war Filbinger kein Gegner des bürgerlichen Staats und der Nation in Deutschland, so hat er, als er die Todesstrafe für Gröger beantragen musste, vielleicht nicht die Strafhöhe, aber die Beweggründe des Gerichtsherrn verstanden und gutgeheißen: Es ging nämlich für die Marine 1945 darum, die sich abzeichnende Niederlage in ihrem Aufgabenbereich nicht zur totalen Katastrophe werden zu lassen. Desertion war - nach Meinung nicht nur von Filbingers Gerichtsherrn, sondern fast aller Soldaten - mit allen Mitteln zu unterbinden, um einen geordneten Rückzug von Millionen von Zivilisten und hunderttausenden Soldaten über die Ostsee zu ermöglichen. (5)  Ich kann den Gedanken nachvollziehen; ein Urteil darüber maße ich mir als Nachgeborener nicht an.

Ordnung oder Chaos nach der Kapitulation?

Ein Interesse an der Aufrechterhaltung militärischer Ordnung bestand sogar noch nach der Kapitulation, als niemand wollen konnte, dass die Marine und das Heer auseinander läuft - schon gar nicht in ehemals besetzten Ländern. Davor hatten zum Beispiel die Norweger einen Horror - Filbinger war dort eingesetzt. Daher haben die Sieger - nach Überprüfung der Person - Filbinger und andere im Amt belassen, das heißt, sie arbeiteten nun für die Befreier, wie sie genannt wurden und wie sie heute noch von etlichen Freunden und Gegnern Filbingers bezeichnet werden. Auch für Urteile im Dienste der Befreier (konkret: der Engländer) wird Filbinger belangt; aber dass die Sieger das deutsche Recht größtenteils in Kraft und viele deutsche Richter im Amt ließen, kann man Filbinger nicht vorwerfen. Die Militärjustiz hatte auch jetzt den Laden zusammenzuhalten. Dass die Alliierten Ordnung wollten, ist verständlich: Wenn man sich die Lage im Irak unmittelbar nach der Niederlage von Husseins Truppen anschaut, sieht man, was herauskommen kann, wenn ein Besatzer sich nur ein paar Tage nicht darum kümmert - Plünderung und Anarchie. Auch im Bereich der Wehrmacht war Plünderung usw. nicht ausgeschlossen. Im zerbombten Kiel hingen nicht umsonst Plakate mit der Warnung "Wer plündert, wird erschossen". Filbinger hatte 1943 als Ankläger gegen sieben "kleine Leute in Uniform", die nach dem Luftangriff in Kiel geplündert hatten, aufzutreten. Für einen von ihnen, den Soldaten Krämer, der mehrfach geplündert hatte, beantragte er die Todesstrafe. Ein Vergleich zum Bedenken: In Berlin hat man erzählt, sowjetische Offiziere hätten 1945 beim Einmarsch eigene Leute auf der Stelle erschossen, die sie bei einer Vergewaltigung erwischt haben. Alle, die es hörten, egal, ob links oder rechts, waren ob der todbringenden Reaktion der Offiziere zutiefst befriedigt. (5a) Zurück zur Plünderung der Häuser von Bombengeschädigten durch eigene Soldaten: Das Gericht (nicht Filbinger) verurteilte diesen Soldaten dann zum Tod. Filbinger aber spielte dem Gerichtsherrn ein von ihm, Filbinger, aufgenommenes Protokoll einer Aussage von Krämer zu, das Gesichtspunkte enthielt, die für eine Begnadigung von Belang sein konnten. Der Gerichtsherr verstand, worauf Filbinger hinauswollte und forderte von ihm eine Vorlage für eine Stellungnahme zur Gnadenfrage an. Dieser Vorgang ist sehr ungewöhnlich, nach Heinz Hürten ist der Anklagevertreter zu einer solchen Stellungnahme nicht verpflichtet und nicht berechtigt. In dieser Stellungnahme ließ Filbinger jedenfalls Neune gerade sein, um den kleinen Soldaten zu entlasten; die Todesstrafe wurde vom Oberkommando der Marine in 8 Jahre Zuchthaus umgewandelt. Das ist ein Beispiel für das, was ich oben "verschlungene Pfade" genannt habe.

Siehe auch: Der Fall Petzold.

Filbingers Schuld

Was bleibt nun übrig an Schuld, das man Filbinger vorwerfen könnte? Es hatte groß angefangen: Anfang 1978  war in der "Zeit" ein Vorabdruck aus der Erzählung "Eine Liebe aus Deutschland" von Rolf Hochhuth erschienen - dies war der Beginn der Hauptkampagne gegen den Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg. Dort heißt es, man müsse vermuten, Filbinger "ist auf freiem Fuß nur dank des Schweigens derer, die ihn kannten." Es wurde also eine kriminelle, gerichtsverwertbare Schuld Filbingers vermutet. Diese zu beweisen ist bis heute niemandem gelungen. Und es ist Wette und seinen Vorgängern in der Kampagne 1978 auch nicht gelungen, Filbinger irgend eine Amtshandlung als Richter nachzuweisen, die NS-typisch gewesen wäre, ob gerichtsverwertbar oder nicht. Man kann, wie gesagt, Filbinger als Schuld nur vorwerfen, dass er sich nicht geopfert hat - wie die überwältigende Mehrheit der Deutschen.

Filbinger hat sich nicht geopfert, sondern hat eine Rolle im System gespielt, wie sie fast jeder an seinem Platz gespielt hat und spielen musste. Die Mutter gebar Kinder, die - ob sie wollte oder nicht - das Regime als zukünftige Soldaten vorsah. Der polnische Zwangsarbeiter auf dem Land brachte Getreide ein, aus dem wieder andere Brot buken, von dem auch die Nazi-Größen aßen und das an die Front geschickt wurde. Die Soldaten stärkten sich mit diesem Brot und mussten schießen. Die Militärjustiz trug zum Zusammenhalt der Wehrmacht bei - sie hatte zunächst einmal die selbe Aufgabe wie die Militärjustiz in jedem anderen Land, auch bei den Siegermächten des 2. Weltkriegs. Die ganz überwiegende Mehrheit der Fälle Filbingers waren keine anderen, als sie in jeder Armee der Welt vorkommen und geahndet werden - von Kameradendiebstahl bis zum unerlaubten Entfernen.

Filbinger scheint die Militärjustiz und die Marine nicht untergraben zu haben. Aber gerade in den seltenen politisch zu nennenden Verfahren gegen Regimegegner, die sich gegen Hitler und den Krieg geäußert hatten und sich meist dem Vorwurf "Wehrkraftzersetzung" ausgesetzt sahen, scheint Filbinger Sand im Getriebe der Marinejustiz dargestellt zu haben. Das zeigen die Fälle Möbius, Forstmeier und Prößdorf. Filbinger war nicht "Hitlers Marinerichter", war nicht der "furchtbare Jurist" oder der "Blutrichter", der zu sein man ihm vorwirft - Wette scheut sich nicht, alle diese Anwürfe zustimmend zu zitieren. Aber es war 1978 für einen gewöhnlichen Zeitungsleser nicht mehr durchschaubar, ob etwas und wenn ja, was an den Vorwürfen gegen Filbinger, die Woche für Woche, Monat für Monat, neu hervorgebracht wurden und Schlagzeilen machten, gerechtfertigt war. Zumal die Gegenargumente Filbingers und seiner Verteidiger sehr stiefmütterlich oder gar nicht behandelt wurden - von jenem Teil der Presse und der Medien, der entschlossen war, den Ministerpräsidenten zu schlachten. Und natürlich werden sich auch 2003 nur wenige der Zuhörer im Historischen Kaufhaus in Freiburg intensiv mit den Darstellungen, Argumenten und Dokumenten der Gegenseite und Dritter befasst haben oder befassen. Sie sollen es auch nicht, denn Wette sagt ihnen im Bezug auf den Fall Gröger:

"Die Einzelheiten der verfahrensrechtlichen Abläufe sind nur mit etlichem Aufwand nachzuvollziehen. Das kann hier nicht geleistet werden, soll es auch nicht, da man sich damit genau auf jene Ebene begeben würde, auf der sich Filbinger und Co. stark fühlen."

Auf jener Ebene der Einzelheiten nicht nur, aber auch der verfahrenstechnischen Abläufe würden sie der historischen Wahrheit begegnen.

Es ist, wie Martin Walser, der sich 1976 noch als entschiedener Filbinger-Gegner auswies (6), in seiner viel widersprochenen, aber wenig gelesenen Rede 1998 in der Frankfurter Paulskirche (7) sagte: "Wenn eine Beschuldigung weit genug geht, ist sie an sich schon schlagend, ein Beweis erübrigt sich da."

Kniefall nach Rufmord?

Die Sachlage vor dem Rücktritt Filbingers war also die: Ihm war keiner der Anwürfe seiner Gegner bezüglich seiner Tätigkeit in der Militärjustiz nachzuweisen, alles erledigte oder relativierte sich bei genauerem Hinsehen. Und doch haftete der Dreck seiner Gegner an ihm; in der Öffentlichkeit, bis in die Reihen der CDU hinein, glaubte man schließlich, irgend etwas wird schon an den Vorwürfen stimmen. Seine Gegner verlangten von ihm dafür einen öffentlichen Kniefall, eine öffentliche Reuebekundung für seine angeblichen Vergehen. Manche griffen dabei zu einem raffinierten Trick: Sie ließen vorsichtshalber und zum Schein die konkrete, ohnehin nicht beweisbare Anklage ("Fakten") gegen Filbinger fallen und gestanden ihm zu, gar nichts Besonderes gewesen zu sein. So auch Wette noch 2003: Filbinger sei "ein 'furchtbarer Jurist' insoweit, als er ein ganz normaler NS-Militärrichter war." Als solcher hätte er "Einsicht und Reue" zeigen müssen.

Damit hätte Filbinger öffentlich bereuen sollen, dass er ein ganz normaler Militärrichter war (die Funktion "NS-Militärrichter" gab es nicht, sowenig wie die Funktion "NS-Soldat" oder "NS-Postbote"). Mit gleichem Recht hätte man von jedem normalen Soldaten und Postboten eine öffentliche Reuebekundung als Voraussetzung dafür verlangen können, ein öffentliches Amt bekleiden zu dürfen. Der Mann jedenfalls, der sich - vergeblich - zu den U-Booten gemeldet hatte, um dem Justizdienst zu entgehen, der noch als Militärrichter katholische Gottesdienste besuchte, der Regimegegner vor dem sicheren Tod bewahrte, dem wie vielen Millionen anderen die besten Jahre von einem System, das er nicht gewollt hat, gestohlen worden waren, dieser Mann zeigte die von seinen Gegnern geforderte Reue nicht, zumindest nicht zum gewünschten Zeitpunkt und nicht in der gewünschten öffentlichen Form. Damit gehörte er zu den zählbaren Politikern, die nicht umfallen, auch wenn es den Posten kostet.

Es ging 1978 und bis heute darum, Filbinger und seiner Generation - den normalen Militärrichtern, Soldaten und anderen in das NS-System involvierten - die moralische Kompetenz zum Regieren abzusprechen. Als er keine öffentlichen Reueübungen vorführte, meinte man zu sehen, wie verbohrt er ist. Hätte er dagegen diese Übungen gemacht, hätte man gemeint, zu sehen, wie "Recht" seine Ankläger hatten. Für diesen Fall hätte er "Freispruch" bekommen, wie seine Gegner behaupteten und behaupten. So auch Wette:

"Hätte er die Fakten (jetzt doch wieder Fakten, H.N.) auf den Tisch gelegt und Reue gezeigt, wäre der Fall vermutlich ausgestanden gewesen. Aber es scheint in der Natur dieses autoritären Machtpolitikers zu liegen, Fehler nicht einzugestehen und Reue nicht empfinden zu können."

"Was damals Recht war, kann heute nicht Unrecht sein!"

Als Indiz für seine angeblich mangelnde Einsicht ins NS-Unrecht wird immer wieder ein von Spiegel-Redakteuren kolportierter angeblicher Satz Filbingers herangezogen. Die Frankfurter Rundschau eröffnete Wettes neu-alte Anklage am 24. 9. 2003 wie folgt:

"'Was damals Recht war, kann heute nicht Unrecht sein', sagte der damalige baden-württembergische Ministerpräsident Filbinger zu den Vorwürfen, als NS-Marinerichter an Todesurteilen mitgewirkt und sie sogar verhängt zu haben. Eine Haltung, der jede moralische Distanzierung vom NS-Regime abging und die schließlich zum Rücktritt des uneinsichtigen CDU-Politikers führte."

Weiter unten schreibt Wette:

"Mit seinem Spruch machte sich Filbinger damals zum Sprachrohr der "Ewiggestrigen", der Unbußfertigen und Selbstgerechten."

Das ist nicht die Wahrheit. Filbinger stand nie zu diesem Satz, wie er von Spiegel-Redakteuren kolportiert wurde, sondern bezeichnete ihn immer als aus dem Zusammenhang gerissen. Das Gespräch mit dem Spiegel ist auf keinem Tonband festgehalten, sondern von den Spiegel-Leuten lediglich kolportiert. Sie hatten in dem Gespräch Filbinger vorgeworfen, mit dem Plädoyer für die Todesstrafe gegen Gröger damals geltendes Recht gebeugt zu haben, sich quasi eines Tötungsdelikts schuldig gemacht zu haben. Das wiesen Filbinger und der beim Gespräch anwesende Ministerialrat Groll zurück, denn das Plädoyer auf die Todesstrafe war keine Rechtsbeugung - die Androhung der Todesstrafe für Desertion war nicht einmal eine Besonderheit des Nationalsozialismus, sie war auch im Kriegsrecht fast aller demokratischen Staaten verankert und wurde angewendet - selbst in der neutralen Schweiz wurden im 2. Weltkrieg 17 Todesurteile der Militärjustiz vollstreckt. Der vielleicht auch im Wortlaut gar nicht so gefallene Satz gehörte von Anfang an in die Mülleimer der Redaktionsstuben - doch die Redakteure nicht nur des Spiegels machten mit diesem Satz wie selten mit einem anderen Politik. Aber die Position Filbingers zum nationalsozialistischen System und seinem Unrecht kann durch die Kolportierung dieses Satzes nicht weggewischt werden: Die Behauptung, Filbingers Haltung ginge "jede moralische Distanzierung vom NS-Regime" ab, ist über alle Maßen dreist und unverschämt von Leuten, die noch in den Windeln lagen, als Filbinger versuchte, NS-Gegner, "Wehrkraftzersetzer" aus den Fängen der Hardliner unter seinen Kollegen herauszuziehen.

Hans Filbinger war als Marinerichter Gegner des Nationalsozialismus und blieb es auch als Politiker der Nachkriegszeit. Das zeigt selbst seine Rede in Brettheim, mit der Wette und vor ihm schon andere glaubten, ihn aufs Kreuz legen zu können. 1960 hatte Filbinger - frei von den rhetorischen Zwängen von einem, den man gerade auf die öffentliche Schlachtbank führt - ein Terrorurteil eines "fliegenden SS-Standgerichts" (8) in Brettheim ein "himmelschreiendes Urteil" genannt. Solche Standgerichte hatten mit der Militärjustiz nichts zu tun, sondern waren noch im März 45 gerade deswegen neu geschaffen worden, weil die Militärjustiz nicht so funktionierte, wie Hitler es sich wünschte. Diesen in nichts mit dem Fall Gröger vergleichbaren Fall in Brettheim hielt Erhard Eppler 1978  im Stuttgarter Landtag dem Ministerpräsidenten vor. Er suggerierte, auch Filbinger habe ein "himmelschreiendes Urteil" gefällt. Doch das einzige, wozu die Brettheimer Äußerung Filbingers taugt, ist, einmal mehr seine Gegnerschaft gegen das NS-Unrecht zu belegen.

Schluss: Wer selbst ohne Schuld ist ...

Die Hauptkampagne gegen Filbinger fand mit seinem Rücktritt ihr Ende. Bei etlichen seiner Parteifreunde stand - wie so oft in den etablierten Parteien - der Stimmenfang über den Prinzipien; Filbinger verlor bei ihnen an Rückhalt. Man begann in der CDU zu fürchten, er würde bei den nächsten Wahlen eine Belastung werden. Filbinger wollte diese Belastung nicht sein und trat zurück. Jedoch verwahrte er sich gegen den Hohn seiner Gegner, die nun den Grund für seinen Rücktritt bei der CDU und nicht bei ihrer eigenen, demagogischen Kampagne finden wollten.

Der Vorwurf, der der Linken der späten 70er Jahre und ihrer Filbinger-Kampagne zu machen ist, ist der: Sie hätte nicht die angeblichen Verfehlungen  Filbingers als Marinerichter und seine angebliche Uneinsichtigkeit zur Munition machen dürfen, um ihn abzuschießen. Das Problem der Linken war, dass Filbinger 1976 in Baden-Württemberg mit der demagogischen Parole "Freiheit oder Sozialismus" einen haushohen Wahlsieg eingefahren hatte und womöglich nach Bonn gegangen und Bundespräsident geworden wäre. Gegen diesen Mann standen im Wahlkampf  entweder die besseren aktuellen Argumente nicht zur Verfügung oder aber das bessere Volk, das solche Argumente kapiert hätte, fehlte. Es hatte Filbinger und seine Partei mit fast 57% der Stimmen bedacht, die CDU im Südweststaat hat sich damit in den zwei Wahlen unter Filbinger um insgesamt fast 13% verbessert. Aber die Linke sollte, wenn sie sich nicht durchsetzen kann, nicht auf unlautere Methoden verfallen, wie alle anderen dies nicht sollten (aber leider all zu oft tun). Die Linke sollte es lassen, das Volk, das sein Kreuzlein an der falschen Stelle macht, durch berechtigte und all zu oft auch unberechtigte Vorwürfe bezüglich der NS-Vergangenheit einschüchtern und umerziehen zu wollen.

Filbinger griff in seinem Buchtitel die Tatsache auf, dass mit ihm eine ganze Generation geschmäht wurde. So auch, wenn er dort schreibt:

"Soldatische Pflichterfüllung auf der einen Seite und Dienst in einer menschenfeindlichen Diktatur brachten eine ganze Generation in auswegslose moralische Konflikte, und das führte im Zuge einer Vergangenheitsbewältigung dazu, daß diese Generation heute verunglimpft und geschmäht wird. So geschah es auch mit mir."

Mit dieser Generation wurden  und werden deren Werte mitgeschmäht, die teilweise auch die meinen sind. Dies ist der Grund, warum ich mich hier einsetze. Wie Filbinger haben Unzählige mitmachen müssen und doch hie und da Wiederstand geleistet, verschlungenen, schwachen, meist zu schwachen. Die nachfolgende Generation hat sie verdammt.

Für manche Leute ist der Faschismus eine faule Tomate, die man jedem anwerfen kann, der einem politisch missfällt. Die Beschäftigung mit der NS-Vergangenheit ist immer noch notwendig und wird es noch lange sein. Ihr Anliegen sollte aber nicht sein, tagespolitische, wahltaktische Zwecke zu verfolgen, sondern, zu verhindern, dass die schrecklichen Verbrechen des Nationalsozialismus sich wiederholen können. Dabei ist es nicht notwendig, den Faschismus schlimmer zu machen, als er war - er war schlimm genug, es braucht nicht aus gelegentlich erheblich widerstrebenden Richtern "furchtbare Juristen" gemacht zu werden. Zu warnen ist auch vor der Vorstellung, dass neues, ganz großes Verhängnis nur auf dem alten Gebiet und im alten Kleid auftreten kann - in den gleichen Formen, mit den gleichen Springerstiefeln, den gleichen Hakenkreuzen. Gefährlich auch die Vorstellung, dass "wir" allein die Guten, "die anderen" allein die Bösen sind - wir alle tragen die Anlagen zu Gut und Böse in unserer Brust. Und im Umgang mit unseren Vätern und Müttern sollte ein Satz des Jesus von Nazareth Berücksichtigung finden: Wer selbst ohne Schuld ist, werfe den ersten Stein.

Harald Noth
Im Sommer 2003
Leicht gekürzt im Oktober 2020

Ihre Meinung bitte an meinung@noth.net

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(1) Wolfram Wettes Rede im Freiburger Kaufhaus ungekürzt auf BZ-online

(2) Hans Filbinger: Die geschmähte Generation, 3. ergänzte und überarbeitete Auflage, Esslingen 1994 (die erste Auflage war 1987). Die Homepage von Hans Filbinger beschäftig sich ebenfalls ausgiebig mit dem "Fall", doch ist das Buch die Quelle der ersten Wahl.

(3) Heinz Hürten, Wolfgang Jäger, Hugo Ott: Hans Filbinger - der "Fall" und die Fakten. Mainz 1980. --- Erst lange nach Fertigstellung meines Artikels bin ich auf die gute Zusammenfassung der historischen Fakten von Günther Gillessen gestoßen, Titel: Der Fall Filbinger - Ein Rückblick auf die Kampagne und die historischen Fakten. Ebenfalls noch nicht bekannt war mir Franz Neubauer: Das öffentliche Fehlurteil - Der Fall Filbinger als ein Fall der Meinungsmacher, Regensburg 1990. Neubauer zitiert zahlreiche Gesetze, Verordnungen, Urteile und deckt Ignoranz und Dilettantismus der Wortführer in der Pressekampagne gegen Filbinger auf. Auch die Urteilsbegründung des Landgerichts Stuttgart steht in seiner Kritik, in dem Hochhuth erlaubt wurde, Filbinger weiterhin einen "furchtbaren Juristen" zu nennen.

(4) Wer den linken Kern der christlichen Botschaft nicht kennt, kann sich darüber bei Heiner Geißler informieren. In seinem Buch "Was würde Jesus heute sagen? - Die politische Botschaft des Evangeliums", Berlin 2003, stellt er die gesellschaftliche Situation in Palästina zur Zeit Jesu und dessen Rolle und Lehre sehr anschaulich dar. Bei seinem Versuch der Anwendung der Lehre Christi auf die heutige Zeit kommt der Mann, der in den 90er Jahren noch in höchsten Gremien der CDU vertreten war und mitregierte, zu Ergebnissen, die in vielen Punkten den programmatischen Vorstellungen der Grünen in den 90er Jahren entsprechen, als sie noch nicht regierten. Die Grünen wurden inzwischen erwachsen - in vielen Fragen nicht zu ihrem Vorteil. Geißler dagegen wurde infantil - oft nicht zu seinem Nachteil. Kann es sein, dass Macht korrumpiert, egal wen? Das Buch ist jedenfalls lesenswert.

(4a) Franz Neubauer (vgl. Anmerkung 3) schreibt (S. 146): "Im Fall Möbius war jener (Filbinger, H.N.) nicht Ankläger und insofern nicht an strikte prozessuale Regeln gebunden. Auch ging es hier um ein politisch bestimmtes Verfahren, bei dem die Solidarität von Nichtnazis zum Tragen kommen konnte. Schließlich konnte Filbinger hier im Gegensatz zum Fall Gröger von einem klaren Fehlurteil sprechen."

(5) Die Überlegung, dass der Rückzug an der Ostsee geschützt werden musste, ist sogar für Wette nachvollziehbar:

 "Wie wir bereits wissen, desertierte der Matrose Gröger nicht im Frühjahr 1945, wie Filbinger behauptet, sondern im Dezember 1943. Dessen Fahnenflucht stand also mit den Evakuierungsmaßnahmen über die Ostsee in keinerlei Verbindung. Filbinger wollte mit seinem Hinweis auf die "größte humanitäre Rettungsaktion in der Geschichte" die besondere Schädlichkeit der Desertion dieses Marinesoldaten herausstellen und damit um Verständnis für das Todesurteil werben. Seine Tatbestandsdarstellung ist jedoch wahrheitswidrig, und ich frage mich, woher Filbinger den Mut nimmt, die Öffentlichkeit in dieser Weise irre zu führen."

Wette sagt damit: Wäre Gröger im Frühjahr 1945 desertiert, wäre das Todesurteil vielleicht verständlich (wenn auch nicht zu begrüßen). Woher Wette den Mut zur Behauptung nimmt, Filbinger habe hier gelogen, kann man nur vermuten. Vielleicht meint er, sein Publikum nimmt's nicht so genau. Die Angabe 'Desertion Frühjahr 45' stammt nicht von Filbinger, sondern aus dem schon erwähnten Leserbrief seines Rechtsanwalts Hammerstein. Wette unterstellt, dass der Brief Hammersteins aus der Feder Filbingers stammt, in der Frankfurter Rundschau zitiert er sogar ganz ungeniert von Hammerstein unterschriebene Worte als die Filbingers. Doch der Lapsus mit der Jahreszahl lässt eher daran glauben, dass Hammerstein den Brief alleine geschrieben hat: Filbinger nämlich schreibt in seinem Buch (mir liegt die 3. Auflage 1994 vor) auf S. 67, dass die Desertion sich im Dezember 1943 abgespielt hat. Die zweite Verhandlung, bei der Filbinger, wie schon sein Vorgänger, weisungsgemäß die Todesstrafe zu beantragen hatte, fand am 16. Januar 45 statt (Filbinger, S. 68). Das Gericht (also der Richter und seine zwei Beisitzer - nicht Filbinger) verurteilten Gröger dann zum Tod. Der Verteidiger Grögers stellte ein Gnadengesuch, sodass der Fall noch dem Oberbefehlshaber der Kriegsmarine vorgelegt werden musste, der hätte begnadigen können. Er tat es nicht; das Urteil (nicht das Plädoyer des Anklägers) war daher innerhalb der vorgeschriebenen Fristen zu vollstrecken. Die Militärs fürchteten offenbar eine negative Signalwirkung einer milden Aburteilung oder Begnadigung von Deserteuren auf die Disziplin der Soldaten. Dabei spielte es überhaupt keine Rolle, ob die Desertion im Januar 45 stattfand oder ein gutes Jahr früher.

(5a) Nachtrag vom 20. 12. 04: Es geht hier um die spontane Reaktion der Zuhörer. Die Geschichte selbst stimmt möglicherweise nicht, so muß ich nun nach der Lektüre von "Eine Frau in Berlin - Tagebuchaufzeichnungen vom 20. April bis 22. Juni 1945" (Frankfurt 2003) einräumen. Offiziere der sowjetischen Befreier drückten nach Augenzeuginnenbericht beide Augen zu oder haben selbst vergewaltigt - freilich hatten sie oft subtilere Mittel, sich anzunähern, als untere Mannschaftsgrade. Die Zeugin spricht davon, dass manche Frau sich dem stärksten Wolf anschließen musste, um gegen den Rest des Rudels geschützt zu sein; die Essensgeschenke solch eines sternebehangenen Wolfs schützten auch vor dem schlimmem Hunger. Es handelt sich bei diesem Buch nicht um ein rechtes Pamphlet; die Reihe, in der das Tagebuch erschien, ist von dem linken Publizisten Hans Magnus Enzensberger herausgegeben.

(6) Martin Walser, Zweierlei Füß - Über Hochdeutsch und Dialekt, in: Dialekt - Wiederentdeckung des Selbstverständlichen, Hg. Matthias Spranger, Freiburg 1977

(7) Martin Walser, Erfahrungen beim Verfassen einer Sonntagsrede, Frankfurt 1998

(8) Nach Filbinger (S. 164) und Wette (in seiner Rede) handelte es sich in Brettheim um ein Standgericht, nach Neubauer (S. 226) um ein Feldkriegsgericht, das einem Sturmbannführer der Waffen-SS unterstand, der kein Militärjurist war.

 

Aus Filbingers Marschgepäck

Im Nachlass des Freiburger Dichters Reinhold Schneider befindet sich ein Feldpostbrief von Hans Filbinger (abgebildet in Filbingers "Die geschmähte Generation"). Er schrieb am 9. 12. 41, wohl nach einem Heimaturlaub, an den Dichter:

"Ich werde eine Zeit brauchen, bis ich mich ganz von Freiburg abgelöst habe. Die Tage waren so schön u. reich gewesen, das danke ich Ihnen u. den Freunden im Kreis. Im meiner Mappe trage ich "Das Vaterunser" mit. Das wird mich jetzt oft begleiten in meiner dienstfreien Zeit. Ich bin so froh darüber, haben Sie hierfür meinen besonderen Dank."

"Das Vaterunser" Reinhold Schneiders erschien im "Alsatia Verlag Kolmar im Elsaß" (ohne Jahrangabe), musste also nach der Besetzung des Elsaß 1940 erschienen sein. Dass es überhaupt erschien, verwundert, denn dieses Büchlein strotzt von leicht durchschaubarem Unmut über das nationalsozialistische System. Ein Beispiel (S. 13ff):

Vater unser, der Du bist im Himmel, Dein Wesen verändert sich nicht. Hier unten aber verwandelt sich alles; geliebte Vermächtnisse vergangener Zeiten werden zerstört über Nacht, die Freunde werden uns entrissen, und unversehens bricht in das letzte Tal des Friedens grenzenlose Verwirrung herein. Die Mächte der Tiefe erheben sich gegen uns und nehmen fast alle Bezirke des Lebens in Besitz; Trugbilder der Wahrheit, des Rechtes schweifen umher und ziehen uns vom Rechte und von der Wahrheit fort; Haß verfälscht das Wesen des Menschen; keiner erkennt mehr Dein Spiegelbild in der Seele des anderen, und so versteht auch keiner das Wort des Bruders mehr. Die Erde meint, sich gegen den Himmel zu erheben und ihre eigene Ordnung schaffen zu können; so werden die Beziehungen zwischen allen Wesen und Dingen verrückt; es ist keine Kraft mehr da, die sie von oben trägt. Und die Dinge der Erde suchen sich an sich selbst zu befestigen und stürzen immer tiefer. (...) Die Welt ist uns fremd geworden. Aber wir sind Deine Kinder in dieser fremden Welt und wollen uns als solche bewähren. Alles andere steht bei Dir.

Ein zweiter Brief Filbingers ist bei Hugo Ott u.a. (Hans Filbinger - der "Fall" und die Fakten) zitiert. Der Soldat aus dem Badischen schrieb am 15. 11. 1942, offenbar wieder nach einem Heimaturlaub, von der nördlichen Kriegsfront:

"Ihr neuestes Büchlein 'Der Kreuzweg' wurde mir am letzten Tag nach Freiburg geschickt. Ich hab's mitgenommen; hier wird es mich mit Ihnen verbinden und mit der Tiefe jener Welt, in der wir leben wollen. Unser prächtiger Freiburger Kreis, ich bin jetzt doppelt dankbar, wo sich draußen so viel Dräuendes abzeichnet."

Reinhold Schneider (in der Alemannischen Wikipedia)

Im Noth Harald si Briäf üs Alemanniä - www.noth.net