Eine
Sprache stirbt aus: das Jiddisch Ein Artikel von Gabriel Andres (Rot un Wiss Nr. 191, Juli-August 1993) Vor
dem letzten Krieg sprachen etwa 12 Millionen Menschen in der Welt Jiddisch.
Heute sind es vielleicht noch der zehnte Teil davon. Am
12. August 1952 wurde, auf Befehl Stalins, eine Reihe von bedeutenden jiddischen
Autoren in Russland erschossen. Wer
waren sie und wer kennt sie noch? Itzik
Fefer, 1900 in der Ukraine geboren, David Hofstein, 1899 ebenfalls in der
Ukraine geboren, Lejb Kwitko, Peretz Markisch, David Bergelson, dessen
dramatisches Werk „Wir wiln lebn!“ unzweideutig darstellt, wie die Lage der
Juden damals in Sowjetrussland war, und andere mehr. In den drei Jahrzehnten, in
denen Stalin herrschte, wurden 238 Schriftsteller, 106 Schauspieler, 87
Plastiker und 19 Musiker der jüdisch-russischen Gemeinschaft ermordet. Ein
entscheidenter Schlag gegen eine Minderheiten-Kultur war ausgeführt worden. Und
bei den aufgezählten oder bekannten sind die unzähligen Namenlosen nicht
genannt. Da
kam Hitler und vervollständigte den Völkermord. In Wirklichkeit sind es
Millionen von Menschen jiddischer Sprache, die in diesen furchtbaren Jahren
durch Hitler oder Stalin, durch Pogrome in der Ukraine, Polen, Litauen, oder
sonstwo im Osten umgebracht wurden. Es
liegt, insbesondere was die Vernichtung der Juden und der jiddischen Kultur in
der ehemaligen Sowjetunion anbelangt, eine unverständliche Tragik in diesem
grauenhaften Schicksal. Denn gerade die Sowjetuinion war in den ersten Jahren
ihres Bestehens und trotz des in Russland immer grassierenden Antisemitismus,
eine Zufluchtsstätte für die Juden, die dort sogar eine eigene, autonome
Republik aufrichten durften, im Jahre 1934, als in Deutschland die
Judenverfolgung hohe Wellen schlug, unter der Benennung „Autonome jüdische
Sowjetrepublik Borobidschan“.Während des letzten Krieges kämpften die Juden
an der Seite der sowjetrussischen Soldaten gegen die deutsche Wehrmacht und die
Nazis. Kaum
aber war der Krieg, zwar siegreich, doch unter höchsten Opfern beendet, da
schlug Stalin noch grausamer zu als zuvor. Schon zuvor, als die Arbeiterführer
Viktor Alter und Henrik Ehrlich zur Verteidigung der Sowjetunion ein
„Internationales jüdisches antifaschistisches Komitee“ gründeten, liess
Stalin sie hinrichten. Er duldete lediglich ein „Sowjetisches jüdisches
antifaschistisches Komitee“. Nach dem Krieg wurde die Judenverfolgung verschärft.
Von 1949 bis 1958 durfte kein einziges jiddisches Buch erscheinen. Tausende von
Juden wurden ohne Prozess hingerichtet oder im Gulag der Verzweiflung
ausgeliefert. Es
liegt auf den jiddischen Autoren wie ein Fluch. Vom Westen sind sie als
„Linke“ angesehen und werden auch so behandelt, obschon sie von einer
kommunistischen Macht erdrosselt wurden, die sie als ihre Heimat ansahen. Noch
aber ist Jiddisch nicht ganz ausgestorben. In Berlin erschien ein von Andrej
Jendrusch herausgegebenes Buch „Siegelglas auf Stein“, eine Anthologie der
unter Stalin ermordeten sowjetjüdischen Autoren. (Ed. Maldoror). Eine
erweiterte Ausgabe soll demnächst bei Suhrkamp in Frankfurt erscheinen und ist
vielleicht inzwischen erschienen. Solange
diese Sprache noch gesprochen wird, sei es noch so wenig, ist sie nicht tot. Wir
brauchen wohl nicht auf die Verwandschaft zwischen Jiddisch und Elsässisch
hinzuweisen. Viele Wörter aus dem Jiddischen sind vom Elsässischen übernommen
worden und haben es bereichert: macholle, meschugge, Kaib, Kalöjmes, kauscher
und viele andere mehr. Siehe dazu das Buch von Louis Uhry „Un parler qui s’étaint:
le judéo-alsacien“. Der Kampf um das Überleben des Jiddischen ist der
gleiche wie um das Überleben des Elsässischen. Der Schriftsteller Isaac Bashevis Singer, der 1978 mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet wurde, war wohl der bedeutendste jiddische Schriftsteller. Er hatte 1935 sein heimatliches „stethl“ in Polen verlassen, um sich in den USA niederzulassen, wo er vor einigen Jahren im Alter von 87 gestorben ist. Er war einer der lyrischsten Sänger dieser so fürchterlich zusammengeschlagenen Welt des Judentums im Osten. (Quellen: R. Michaelis in „Die Zeit“ vom 14. 8. 1992) |