Alemannisches Dialekthandbuch vom Kaiserstuhl und seiner Umgebung

Wie leistungsfähig ist das Alemannische?

Ein bekannter hochdeutscher Dichter aus alemannischem Elternhaus behauptete in einem Aufsatz (1) von seiner Muttersprache, man könne in ihr bestimmte politische und andere Aussagen nicht machen. Als Beispiele führt er zwei Sätze aus einer Regierungserklärung auf, man könne sie, so meint er, nicht "in die Art Alemannisch, in der ich aufgewachsen bin" übersetzen. Er schreibt:

“Der erste Satz dieser Erklärung lautet so: ‘Das deutsche Volk ist gegen seinen Willen heute noch geteilt.‘ (...) Ich will diesen Satz dem Dialekt aussetzen. Heißt er dann etwa so: ‘S‘ditsche Volk isch gega sin Willa huot no doald.‘
Würde jemand, der noch alemannisch spricht, den Satz so sagen? Ich glaube nicht. Das ist nicht Dialekt, sondern allenfalls die dialektgefärbte Aussprache eines sonst unverändert hochdeutschen Satzes.“

Dann folgen seitenlange Erklärungen des Schriftstellers, warum “s‘ditsche Volk“ kein echtes Alemannisch sein soll, warum der Ausdruck “die Einheit des Volkes“ nicht ins Alemannische übersetzbar sei usw. usf.

Der Geistesmann vom Bodensee hat diese derart zurückgebliebene und unzulängliche Sprache denn auch aufgegeben; er spricht sie nicht mehr.

Die Abwendung eines Intellektuellen vom Alemannischen, von seiner Muttersprache, erscheint in diesem Aufsatz nicht als ein Manko, wie etwa, wenn einer sein Latein oder sein Französisch verlernt, sondern als Zeichen der Reife, des geistigen Erwachsenseins. Und diese Abwendung ist ihm natürlich kein schmählicher Verrat; im Gegenteil, er stellt sie recht einnehmend dar, wenn er so mit Wehmut auf seine verlorene Kindheit und Muttersprache zurückblickt.

Der Aufsatz entstand 1967, in einer bewegten Zeit, als im Geistesleben viele Weichen neu gestellt wurden. Seinen Jüngern, durch allzulanges Hocken auf den Bänken der Gymnasien und Hochschulen dem Alemannischen ebenfalls entfremdet, muß der Schriftsteller in die Seele gesprochen haben.

Der Dichter macht, wenn er von der Unzulänglichkeit des Alemannischen spricht, den Fehler, nur vom Wortschatz und den Sprachgewohnheiten seiner Eltern und Großeltern auszugehen. Und die haben - anders als ihr Abkömmling - offenbar nicht gerne politisiert, haben anscheinend kaum allgemeine politische oder philosophische Aussagen gemacht.

Beim Hochdeutschen machte der Schriftsteller den gleichen Fehler nicht. Er maß die Leistungsfähigkeit der Staatssprache offenbar nicht daran, wie sie in seinem engsten Familien- und Heimatkreis gesprochen wurde. Ihm blieb dann auch der Schluß erspart, daß mehr mit dem Hochdeutschen nicht drin sei. Sondern er hat sich über das aus seinem Heimatkreis gewohnte Maß erhoben und ist so zu einem bundesweit anerkannten, vielleicht zum renommiertesten süddeutschen Dichter unserer Tage überhaupt geworden.

Mit dem Alemannischen hätte ihm das nicht passieren können. Wir wollen uns, auch wenn damit kein Staat zu machen ist, mit der (Un-)Zulänglichkeit des Alemannischen noch einmal befassen.

 

1. Die Grammatik

Die vier Fälle des Wortes ‘Mann‘ heißen in der Einzahl im Hochdeutschen und im Kaiserstühler Alemannischen wie folgt: 

1. Fall 2. Fall 3. Fall 4. Fall
‘der Mann‘ ‘des Mannes‘ ‘dem Mann(e)‘ ‘den Mann‘
dr Mann (vum Mann) im Mann dr Mann

Es fällt auf, daß das Alemannische hier keine Endungen hat und der erste und der vierte Fall formal nicht zu unterscheiden sind. Wie ist solch ein Mangel zu beurteilen? Ist das Alemannische der neuhochdeutschen Schriftsprache grammatisch unterlegen?

Schon bei einem anderen Wortbeispiel hat das Hochdeutsche in den vier Fällen ähnlich wenig formale Mittel wie das Alemannische:

1. Fall 2. Fall 3. Fall 4. Fall
‘die Frau‘ ‘der Frau‘ ‘der Frau‘ ‘die Frau‘
d Fraü (vu dr Fraü) in dr Fraü d Fraü

Wir wollen in die Untersuchung auch andere Sprachen einbeziehen. Wir greifen einige grammatische Erscheinungen heraus und vergleichen das Kaiserstühlerische hierin mit der gesprochenen neuhochdeutschen, französischen und englischen “Hochsprache“ (für die Internetausgabe ist das Neugriechische ergänzt). Die Einbeziehung einer nicht stammverwandten, nicht indogermanischen Sprache - dem Türkischen - soll den Vergleich abrunden. Die unten abgedruckte, vergleichende Tabelle zeigt, daß das Kaiserstühler Alemannische in den aufgeführten Punkten ein ähnlich schwach ausgeprägtes Formensystem hat wie das Englische. Das Bild würde sich auch kaum ändern, wenn der Vergleich umfassender wäre. Das Französische nimmt eine Mittelstellung ein; das Hochdeutsche und mehr noch das Türkische ist formal stark ausgebildet. Das Alemannische hat, wie das Englische, im Lauf der Jahrhunderte eine formale Vereinfachung durchgemacht.

Vergleich von ausgewählten Formen des Kaiserstühler Alemannisch und fünf weiterer Sprachen (Englisch, Französisch, Hochdeutsch, Neugriechisch und Türkisch)
(x = ja; --- = nein) Alem. Engl. Franz. Hochd. Neugr. Türk.
Beugung des Hauptworts (Deklination)            
(01) 1. und 4. Fall formal unterscheidbar --- --- --- teils teils x
(02) 2. Fall formal erhalten teils teils --- x x x
(03) 3. Fall mit Vorsatzwörtern gekennzeichnet x x x --- x ---
(04) 3. Fall (Einzahl) besitzt eigene Endung --- --- --- teils --- x
(05) Mehrzahlbildung durch Umlaut oft selten ? oft --- ---
Zeitwort/Wirklichkeitsform (Verb/Indikativ)            
(06) drei verschiedene Personenendungen der Einzahl hörbar x selten --- x x x
(07) 2 oder 3 versch. Personenendungen der Mehrzahl hörbar --- --- x x x x
(08) Existenz einer "Präteritumsform" --- x x x x x
(09) Existenz zweier Präteritumstypen mit untersch. Bedeutung --- --- x --- x x
Bezugssätze (Relativsätze)            
(10) mit persönlichem Fürwort eingeleitet --- x x x --- ---
(11) mit unpersönlichen Fürwort eingeleitet x --- teils --- x ---
(12) im 1. Fall mit Partizipialkonstruktion ausführbar --- x x x --- x
(13) in allen Fällen mit Partizipialkonstruktion ausgeführt --- --- --- --- --- x
Lautliches            
(14) Existenz einer "Vokalharmonie" x --- --- --- --- x
 
Erklärende Beispiele:
Sprachen in den Farben wie oben; neugriechische und türkische Schreibung behelfsmäßig
zu (01): 1. Fall: dr Mann; the man; l'homme; der Mann; o ántras; adam; 4. Fall: dr Mann; the man; l'homme; den Mann; ton ántra; adama
zu (02): s Vaders; fathers; Vaters, des Vaters; tou patéra; babanin
zu (03): im Mann, in dr Fraü; to the man, to the woman; à l'homme, à la femme; ston ántra, sta gynaíka
zu (04): dem Storch, dem Mann(e), dem Boten; leylege, adama, haberciye
zu (05): Müüs, Miis; foot, feet; cheval, chevaux; Maus, Mäuse
zu (06): eine hörbar: (nach Aussprache: schö färm), (tü färm), (il färm); 2 hörbar:  I close, you close, he closes;  (schö swi), (tü e), (il e); 3 hörbar: i schliáß, dü schliäßesch, ár schliáßd; i bii, dü bisch, ár isch; I am, you are, he is; ich gehe, du gehst, er geht; pao, pas, paei; gidiyorum, gidiyorsun, gidiyor
zu (07): mir sin, ihr sin, sii sin; we are, you are, they are; nous sommes, vous êtes, ils sont; wir sind, ihr seid, sie sind; eímaste, eísaste, eínai; oluyoruz, oluyorsunuz, oluyorlar
zu (08): he came, he worked; er kam, er arbeitete
zu (09): je fis (ich machte gerade), je faisais (ich pflegte zu machen); ftíaxa (ich machte einmal), ftíachna (ich machte immer); yaptim (ich machte), yapardim (ich pflegte zu machen)
zu (10): the man, who; l'homme, qui; der Mann, welcher
zu (11): der Mann, wu; la chose, que; o ándras, pou
zu (12): the man coming; l'homme venant; der kommende Mann; gelen erkek
zu (13): gördügüm erkek (der Mann, den ich sehe), gittigim erkek (der Mann, zu dem ich gehe), sapkasi gördügüm erkek (der Mann, dessen Hut ich sehe) usw.
zu (14): eb-á-n-á (ob ich ihn), hán-sá-ná (haben sie ihn), si sáhni-si (sie sehen sie); gördügüm (was ich sehe), gittigim (wohin ich gehe), ugrumuzun (unseres Stolzes)

Nun behauptet niemand, das zur “Weltsprache“ erkorene Englisch sei wegen seiner formalen Einfachheit keine leistungsfähige Sprache, sei nicht in allen Themenbereichen und auf allen Sprachebenen zu gebrauchen. Im Gegenteil, gerade in Mitteleuropa mag die Wissenschaft und alles, was sich fortschrittlich dünkt, ohne das Englische gar nicht mehr sein.

Wo im Englischen, Französischen oder Alemannischen Formen fehlen, werden andere Mittel benutzt, um auch komplizierte Zusammenhänge auszudrücken. Das Alemannische im allgemeinen und auch das Kaiserstühlerische ist von seinen grammatischen Möglichkeiten her nicht weniger leistungsfähig als moderne, auf der Sonnenseite stehende Sprachen wie das Englische.

 

2. Der Wortschatz

Das Alemannische hat für ‘riechen‘ und ‘schmecken‘ oder für ‘lernen‘ und ‘lehren‘ nur ein Wort. Das Englische besitzt für ‘wissen‘ und ‘kennen‘ nur ein Wort. Das Hochdeutsche kennt für das Brennen von Feuer und von Brennesseln nur einen Begriff. Im Kaiserstühlerischen heißt das eine bránná, das andere zánglá. Wenn der Hochdeutschsprecher sagt, ‘es riecht nach etwas‘, kann der Dialektsprecher sagen do schmeggd ebis; wenn weitere Unterscheidungen notwendig sind, sagt man s schmeggd guád oder s schdingd. Wenn der Schriftssprachler umständlich sagen muß, ‘es riecht nach Moder‘, kann der Kaiserstühler sagen s michdeled; ebenso einfach sind s beggeled (‘es riecht nach Bock‘), s gaaseled (‘es riecht nach Gas‘) usw.

Oft ist es aber so, daß in der Schriftssprache da, wo ein Wort genügen würde, mehrere zur Verfügung stehen. So kann man für ‘weil‘ auch sagen ‘da‘, ‘alldieweil‘ oder sintemalen‘. Damit können Abwechslung und besondere Effekte erzielt werden. Der verhältnismäßig große Wortreichtum des Hochdeutschen kommt unter anderem daher, daß die Schriftsprache für die selbe Sache manchmal ober-, mittel- und niederdeutsche Wörter und dazu noch jede Menge Fremdwörter enthält, das heißt, der Reichtum ist zum Teil aus den Dialekten und aus Fremdsprachen zusammengesammelt. Der Rechtschreibduden wird gemeinhin für die Wörtersammlung des Hochdeutschen gehalten, er enthält aber zahlreiche Mundartwörter und Fremdwörter. Man findet da von der ‘Prau‘, dem Boot der Malaien, bis hin zum ‘Weidling‘, dem Fischerkahn der Alemannen, eine riesige Menge von Namen, die man mit dem gleichen Recht auch in ein malaisches, ein alemannisches oder sonst ein Rechtschreibelexikon schreiben könnte. Diese Bücher wären dann auch kaum weniger dick.

Es besteht heute übrigens die Tendenz, die aus dem Süden stammenden Wörter fallenzulassen. So geht man von ‘Roß‘ ab und benutzt ausschließlich ‘Pferd‘, sagt ‘Koppel‘ statt ‘Pferch‘, bevorzugt ‘Fleischer‘ oder ‘Schlachter‘ vor ‘Metzger‘, sagt ‘Sonnabend‘ statt ‘Samstag‘. Dieses Zurückdrängen südlichen oder südwestlichen Sprachguts wäre nicht möglich, wenn der Süden selbst mehr Selbstbewußtsein zeigte. Während andere Länder und Regionen ihre kulturellen Besonderheiten zu touristischer Werbung nutzen, neigt man etwa hier im Ländle dazu, sie zu verbergen: so nennt man die Straße im Neubaugebiet ‘Weinbergstraße‘, die Trotte, die man auf den Dorfplatz stellt, nennt man ‘Kelter‘ oder ‘Torkel‘, obwohl die Feriengäste womöglich keines der drei Wörter kennen, aber: sicher ist sicher, und sicher ist, daß ‘Trotte‘, das eigene Wort, nicht das richtige ist.

Besonders ins Gewicht fallen im Hochdeutschen die Fachwortschätze verschiedener Wissenschafts- und Berufszweige, der Verwaltung, des Handels, der Warenwelt. Das Hochdeutsche übernahm und übernimmt jährlich Hunderte von ausländischen Wörtern; ein großer Teil stammt aus dem Lateinischen und Französischen, seit dem Krieg aber besonders aus dem anglo-amerikanischen Bereich. Im deutschen Rechtschreibduden finden sich daher so überflüssige Wörter wie ‘all right‘, ‘ladylike‘, ‘Touch‘ usw. Es ist zur Zeit schier nicht mehr möglich, ein ‘Fahrrad‘ unter diesem Namen zu bekommen; man nennt es ‘Citybike‘, ‘Trekkingbike‘, ‘Mountainbike‘ usw. Diese Geräte wären wahrscheinlich unverkäuflich, wenn der Händler sie ‘Stadtrad‘, ‘Wanderrad‘ oder ‘Bergrad‘ nennen würde.

Die Fachwortschätze im Alemannischen weisen ein solches Wachstum nicht auf; sie haben im Gegenteil die Tendenz, zu verkümmern, wie auch ihr Anwendungsfeld, die Landwirtschaft und die traditionellen handwerklichen Berufe und Fertigkeiten, an den Rand gedrängt werden.

Die kiloweise Übernahme von anglo-amerikanischen Wörtern durch das Hochdeutsche wird manchmal so begründet, als sei das Hochdeutsche weniger als das Englische geeignet, kurze und genaue Fachbegriffe zu bilden. Man versucht in manchen Bereichen, wie etwa der Computer-Technik, schon gar nicht mehr, deutsche Begriffe zu finden. Trotz der Überfrachtung des Hochdeutschen mit ausländischen Wörtern sieht man es aber noch als “deutsch“ an und nennt ein wissenschaftliches oder sonst ein Gespräch auch dann noch “deutsch“, wenn bis zu zwei Drittel der Wörter im Satz englisch, französisch oder lateinisch sind. Und niemand sagt, das Hochdeutsche sei nicht geeignet, um wissenschaftliche Gespräche zu führen.

Das Alemannische nun hält man für untauglich als Sprache der Wissenschaft und der Kultur. Selbst ein hiesiger Mundartdichter hielt seine Vorträge über Marienbilder auf Hochdeutsch, weil, wie er uns Dorf- und Kleinstadtbewohnern sagte, das Alemannische für dieses Thema nicht geeignet sei. An der Grammatik kann dies kaum liegen. Ob es wohl am Wortschatz gebricht?

Nun könnte man ja einfach die Fachbegriffe aus dem Hochdeutschen übernehmen - das schlägt Markus Manfred Jung im Häiliächer (2) vor, er schreibt zurecht:

"D Fachbegriff übernimmt d Hochsprooch jo au."

Und genau das tun auch in der Hochburg des Alemannischen, in der Schweiz, die Wissenschaftler, die Politiker, die Künstler, die Geistlichen und andere, wenn sie sich zu ihren Sachgebieten im Dialekt äußern.

Manch einer im Badischen hat 10 oder 14 Jahre die Schulbank gedrückt, hat auch im Beruf oder an der Uni noch Lehrgeld gezahlt, hat all die Jahre Hochdeutsch gepaukt und ist nun in der Lage, ein hochdeutsches Redemanuskript zu erstellen und vor einem Publikum vorzutragen. Derselbe hat noch keine 14, noch keine 10 Stunden hinter sich, in denen er versucht hätte, sich für ein bestimmtes Thema den alemannischen Sprachschatz zu vergegenwärtigen und ein alemannisches Manuskript zu schreiben. Wenn er sagt, er könne keine Rede auf Alemannisch halten, weil er keine Übung hat, hat er sicher Recht. Wenn er aber sagt, man könne es nicht, das Alemannische sei nicht geeignet, so stimmt das einfach nicht. Es wäre für gar viele Vorträge und Diskussionen geeignet, die man gemeinhin auf hochdeutsch hält; doch es geht, wie bei jeder anderen Sprache, nicht ganz ohne jede Mühe.

Doch nicht immer liegt es an mangelnder Beschäftigung mit dem Dialekt: Zum Beispiel dem schon erwähnten, verehrten Mundartdichter wäre es ein leichtes gewesen, einen Vortrag über Marienbilder auf Alemannisch zu halten, es gebricht ihm weder an der Grammatik noch am Wortschatz noch an der rednerischen Übung. Ob er nicht vielleicht das Hochdeutsche letztlich doch noch als die wertvollere, würdigere Sprache ansieht? Dann gebietet die Ehrfurcht, diese Sprache bei kirchlichen und religiösen Themen auch zu benutzen ...

 

3. Die Verständlichkeit

Das Alemannische ist nicht genormt - es weist von Ort zu Ort und von Gegend zu Gegend Unterschiede auf. Diese Unterschiede werden oft überbewertet. Ein Kaiserstühler Dialektsprecher mit Kontakten in andere Gegenden des alemannischen Sprachgebiets kennt viele Spezialausdrücke aus anderen Orten und Gegenden, ohne sie selbst zu benützen. Es kann aber zu Anfang der Bekanntschaft schon vorkommen, daß örtliche Spezialausdrücke erfragt werden müssen, daß man sich an lautliche Besonderheiten gewöhnen muß. Solche Ausdrücke und Eigentümlichkeiten belasten ein Gespräch meistens nicht; sie machen es oft interessanter und geben Anlaß zum Schmunzeln. (Der Fall, daß Leute, besonders jüngere Leute, sich im alemannischen Sprachgebiet auskennen, wird freilich seltener heute, in einer Zeit, wo die Kontakte über die engste Heimat hinaus immer mehr über die Autobahn Frankfurt-Hamburg, über die Flughäfen oder übers Fernsehen laufen.)

Dialektunterschiede können aber da, wo Zeit Geld ist, als störend empfunden werden. Wenn einer bei Maschinenlärm oder am Telefon sagt dräi, nüün, viär und der andere versteht dräi, null, viär, kann es auch einmal unangenehme Folgen haben, die vielleicht nicht entstanden wären, wenn beide in genormtem Hochdeutsch gesprochen hätten. Das sind aber Extremsituationen.

Daß man innerhalb der eigenen Sprachgemeinschaft etwas Geist aufwenden muß, um verschiedene Spielarten und Ausdrucksformen der Sprache verstehen zu lernen, ist nichts ungewöhnliches und kommt in allen Sprachen vor. Ein englisches Kind zum Beispiel, das seine Muttersprache gut spricht, muß einen enormen Aufwand treiben, um sie auch lesen zu lernen oder gar zu schreiben. Denn das geschriebene Englisch unterscheidet sich beträchtlich vom gesprochenen. Auch in vielen anderen Sprachen ist die Schreibung eine Wissenschaft für sich. Man baut dafür Schulen und Universitäten. Ein anderes Beispiel: Ein Gespräch, eine Verständigung zwischen einem Normalsterblichen und einem Arzt, einem Juristen oder einem Politiker gestaltet sich oft überaus schwierig, obwohl beide Seiten hochdeutsch sprechen. Da sind oftmals Gespräche zwischen Dialektsprechern aus dem Elsaß oder der Schweiz mit Alemannen aus Südbaden ungleich leichter.

Für unsere Frage, was leistet das Alemannische, ist es übrigens nicht wichtig, ob die “Hochdeutschen“ es verstehen. Für die Frage, was leistet das Hochdeutsche, ist ja auch nicht wichtig, ob die Holländer es verstehen. Sondern es kommt auf die Brauchbarkeit unter den Dialektsprechern an.

 

Vereinheitlichung des Alemannischen?

In diesem Kapitel wäre auch zu fragen, ob eine Vereinheitlichung unserer Sprache nicht wünschenswert wäre. Der Verfasser meint natürlich ja. Doch wünschte er nicht jene Vereinheitlichung, die schon im Gange ist: die Vereinheitlichung durch hochdeutsche Verwässerung. Auch eine andere Möglichkeit der Vereinheitlichung, daß eine Spielart des Alemannischen die andere schluckt oder verdrängt, ist unserer Sprachgemeinschaft nicht würdig. Eine Vereinheitlichung in Würde kann nur durch gegenseitiges Kennenlernen und Bereichern geschehen.

Anstatt bei jeder Verlegenheit hochdeutsche oder englische Ausdrücke herbeizuziehen, könnte man auch aus benachbarten Dialekten schöpfen. Oft meint ein Redner oder ein Versemacher, der Sprachschatz seines Dorfes reiche nicht aus, um das und das zu sagen und klaut dann einzelne Wörter aus der Schriftsprache, tut, wie einmal einer sagte, alles mischen mit faulen Fischen. Man könnte zum Beispiel Wörter, die im eigenen Dorf schon untergegangen sind, aus Nachbardörfern wieder entlehnen. Zum Beispiel mànkmool für manchmool, Árbálá für Ärdbäär, Driáler für Ladz usw. Wenn man auch im Normalfall die eigenen Wortformen benutzt, kann es doch stilistisch erfrischend sein, wenn man einmal eine benachbarte Form benutzt - also etwa nummá für nuur, awel für alliwiil, Sáásli für Schdággáschbidzer oder umgekehrt, iini für nii. In den Fällen aber, wo eine Entlehnung aus dem Hochdeutschen unumgänglich ist, sollte man sie wenigstens alemannisch lauten; man wird dann sehen, daß ein Schdaübsüüger so gut saugt wie der gängige Schdaubsauger und daß ein Lüdschbrácher nicht schlechter klingt als ein Laudschbrächer.

Warum ist dieses Buch nicht auf Alemannisch geschrieben?

Des wurd scho ámánká Lááser gfrogt haa. Dr Vrfasser färcht halt, aß-es küüm eber láásá dáát, wánn-s uf Káiserstiálerisch gschriibá wáár. Do muáß mr scho eins noch-em anderá machá. Wánn á Sprooch im Schattáliácht stoht wiá unseri un wann s Láásá un s Schriibá vu dárá Sprooch än keinerá Schuál glährt wird, no hán d Lit aü viil meh Schwiirigkeitá bim Láásá. Was bi uns nootwándig isch, isch, aß d Lit zäärscht ámol sálbschtbewußter Alemannisch schwátzá. Des hab-i unter anderem wellá ärreichá mit dám Buách, wu s meischt uf Hoochditsch gschriibá isch. Wánn ámol wider sálbschtbewußter gschwátzt wird, no kaa aü á gschriibini Kültüür vum Alemannischá lichter äntstoh. S git zwaar jetz scho á alemannischi Schribkültüür im Süüdbaadischá, aber diá nutzá ender blos bsunderi Liábhaaber un Spezialischtá. Miir goht-s bi dám Buách aber nit um d Spezialischtá, s goht-mr um dr alemannisch Normaalvrbrücher, also um Dich, liábá Lááser, un Düü liisesch á dick Buách doch liáber uf Hoochditsch, oder?

In dr zweitá Liiniá riichtet sich des Buách aü án d Nimmi-Alemanná un án d Nonid-Alemanná, án diá Zuázoogená. Bi dááná soll s Indrássi un s Vrstándnis gweckt wáárá fir unser Sprooch. Un Ihr láásá doch aü liáber Hoochditsch, oder?

Aß-i des Buách nit uf Alemannisch gschriibá haa, heißt aber nit, aß-es nit meeglig isch. S git aü dicki Biácher uf Alemannisch. S dickscht Buách im modärná Alemannisch, wu-mr grad iifallt, isch ‘Ds Nöie Teschtamänt bärndütsch‘ (3).

Wie ist nun also die Leistungsfähigkeit des Alemannischen am Oberrhein zu beurteilen? Markus Manfred Jung schreibt dazu:

“D Sprooch git genau des her, was mir drii lege.“

Was aber wird in den Dialekt hineingelegt? In den letzten vier Jahrhunderten hat das alemannischsprachige Volk am Oberrhein viele seiner Kinder an die hochdeutsche (und französische) Sprachkultur abgegeben und als Sprachgemeinschaft meist verloren. Wieviele Wissenschaftler, Politiker, Priester, Lehrer, Schriftsteller und andere Gebildete stammen nicht aus alemannischem Elternhaus, wieviele haben nicht jene hochdeutsche Sprachkultur mit aufgebaut, neben der das Alemannische verlacht und für minderwertig gehalten wird? Viele der Aufgestiegenen haben sich erst gar nicht sagen lassen, “Bauer, bleib auf deinem Melkschemel“, sondern sie haben zeitig ihren Dialekt verborgen, verdrängt und schließlich vergessen. Die sich daneben um die Pflege des Alemannischen gekümmert haben, sind wenige. Kurz: es wurde in den letzten Jahrhunderten im Badischen wenig ins Alemannische hineingelegt. Das Alemannische ist aber nach wie vor eine vollständige Sprache, die ohne das Hochdeutsche existenzfähig wäre und sich rasch zu einer modernen Sprache entfalten könnte. Daß es so etwas gibt, haben wir schon weiter oben (4) dargestellt.

-------------------------------------------------

(1) Martin Walser, Bemerkungen über unseren Dialekt, in: Heimatkunde. Aufsätze und Reden. Frankfurt 1968

(2) Markus Manfred Jung, Statt me Vorwort - Unsri Sprooch, in: D Hailiecher, Alemannische Anthologie Junge Mundart, Hg.: M. M. Jung, Muettersprochgsellschaft, Kehl 1987

(3) Ds Nöie Teschtamänt bärndütsch, Übersetzig: Hans und Ruth Bietenhard, Bern 1983.

Die Bibel auf Alemannisch war auch in der Schweiz nicht immer eine Selbstverständlichkeit. Aus dem Nachwort der Übersetzer ist zu entnehmen, daß bereits 1936 eine moderne, berndeutsche Übersetzung des Neuen Testaments von Johann Howald (in mehreren Teilen) zu erscheinen begann. Damals se "i Bärnerkreise starch drüber diskutiert worde, öb e Bibelübersetzig i ds Bärndütsch überhoupt erloubt syg. Di einte hei gfunde, si syg unnötig; jede Bärner chönni ja sy Bibel uf Hochdütsch läse. Anderi hei gseit, es Nöis Teschtamänt uf Bärndütsch, das syg e Profannation (Entweihung, H.N.). Me chönnt sy Dialäkt no so gärn ha, für d Bibel sygi numen e Hochsprach guet gnue. (...) Aber widerumen anderi Lüt hei ddänkt, gottlob gäbi‘s jitz di Übersetzig, und hei se chreftig bbruucht ..."

(4) siehe vorliegendes Buch, Kapitel “Das Aufleben bedrängter und halbvergessener Sprachen“, S. 205.