Alemannisches Dialekthandbuch vom Kaiserstuhl und seiner Umgebung

Alemannisch in der Schule - Lehre oder Leere?

 In den 13 Jahren 1956 bis 1969 durfte der Schreiber dieser Zeilen in der Schule seines Kaiserstühler Heimatdorfs und in Breisach insgesamt zwei Dialektlieder lernen: in der Volksschule das schwäbische “Auf der schwäbsche Eisebahne“ und am Gymnasium das plattdeutsche Seemannslied “Ik hev mol in Hamburg en Veermaster sehn“. Ein Lied im Alemannischen des Oberrheingebiets war nicht dabei. Dies fiel mir damals freilich nicht auf. Die Unterdrückung des Alemannischen in der Schule nahm ich als naturgegeben hin, wie zum Beispiel auch, daß nachts die Sonne nicht scheint.

Die herrschende pädagogische Meinung im Land war offenbar:

Hochdeutsch lehrt man, indem man den Dialekt abwürgt, unterdrückt oder einfach nicht zur Kenntnis nimmt. Zumindest war das die Praxis. Dabei mußte der Lehrer den Dialektsprechern nicht einmal den Mund verbieten. Es genügte, daß er die Schüler mit den wenigsten Hochdeutschkenntnissen dem Gelächter der anderen überließ. Ja es genügte fast schon, daß viele Lehrer dem Schüler nie im Dialekt antworten konnten. Sie konnten meist nur auf Hochdeutsch antworten oder - bei schriftlichen Äußerungen des Schülers - mit dem Rotstift. Letzteres hat sich bis heute nicht geändert; der Fall, daß ein Lehrer Alemannisch kann, ist eher noch seltener geworden.

Trotzdem ist man - wohl im Zuge der sogenannten Dialektwelle der 70‘er Jahre - dem Dialekt gegenüber sensibler geworden. Doch schlägt sich dies nicht in einer Änderung der Lehrmethode nieder. Das Alemannische ist Gegenstand der Nichtbeachtung geblieben. Man weiß, daß es da ist, aber man schneidet es, man ignoriert es. Diese Zurückstellung des Alemannischen lernen die Schüler auch heute noch als die gegebene Ordnung kennen. Sie lernen ihre Sprache als unterdrückte Sprache kennen, auch wenn sich der Lehrer vor abfälligen Bemerkungen über sie hütet. Von Dialektkindern wurde und wird immer noch verlangt, daß sie bei Außerachtlassung ihrer eigenen Sprache die Staatssprache lernen. Dieser pädagogische Weg (besser gesagt: Irrweg) wird seltsamerweise nur bei Schülern mit einer gesellschaftlich nicht anerkannten Sprache beschritten, also zum Beispiel bei Alemannen (in Baden und im Elsaß) oder bei Kurden (in der Türkei). Wenn aber ein hochsprachlicher Schüler Englisch, Französisch oder Lateinisch lernt, verlangt man von ihm nicht, daß er seine Muttersprache zurückstellt oder gar einstellt. Im Gegenteil. Ein kaum geheim gehaltenes Ziel zum Beispiel des Lateinunterrichts in Deutschland war immer auch, daß das Deutsche gefördert werden sollte. Dazu mußte der Lehrer freilich Deutsch können und nicht nur Lateinisch.

Anders in Südbaden: hier braucht der Lehrer auch in Gebieten mit noch ausgeprägtem Dialekt kein Alemannisch können oder sich ein bißchen in diese Sprache einarbeiten. Dagegen haben sich Deutschlehrer am Gymnasium in ihrer Ausbildung mit der mittelhochdeutschen Dichtersprache zu befassen, die vor 600 bis 800 Jahren lebendig war. Bei entsprechender Schwerpunktsetzung müssen sie sich mit den Besonderheiten des Wortschatzes und der Grammatik dieser Sprache beschäftigen und sie zumindest übersetzen können. Selbst das Althochdeutsche bleibt ihnen nicht erspart.

Oder die Grund- und Hauptschullehrer: sie müssen nicht bisch und hasch sagen können, doch sie lernen das stimmlose und das stimmhafte s des Hochdeutschen korrekt auszusprechen. (Falls Sie nicht wußten, daß es zwei verschieden ausgesprochene s gibt: es gibt sie, sie werden an der Pädagogischen Hochschule in Freiburg bei der “Sprecherziehung“ von süddeutschen Lehramtsanwärtern geübt.)

Wer nun glaubt, daß wenigstens die, die von Haus aus Alemannisch können, die Alemannenkinder unterrichten dürfen, sieht sich oftmals getäuscht. Die Stuttgarter Schulbürokratie verhindert in der Regel, daß junge Lehrer mit Dialektkenntnissen in ihrer Breisgauer Heimatgegend eingesetzt werden.

Thomas Lehner hat Anfang der 70‘er Jahre in der Badischen Zeitung den Eindruck vermittelt, daß “es die Schulämter nicht selten für besonders gelungen“ halten, “wenn sie Lehrer aus Norddeutschland, die der hiesigen Mundart nicht mächtig sind, in Gebieten einsetzen können, wo fast ausschließlich Dialekt gesprochen wird“ (18).

Aus neuerer Zeit habe ich es nicht mehr so deutlich gehört, vielleicht sind die behördlichen Absichten besser geworden. Doch der phantasielose Umgang mit den Sachzwängen führt auch heute noch zu den gleichen Resultaten: Gerade weil Freiburg und der Breisgau ein beliebtes Zuzugsziel von Bildungsschichten aus ganz Deutschland sind, herrscht hier relativer Lehrerüberschuß; alemannische Lehrer aus dem Breisgau (aber nicht nur sie) werden über den Schwarzwald in minderversorgte Gebiete geschickt, während in ihren Heimatdörfern Lehrer aus allen Gegenden Deutschlands tätig sind.

 Eine alternative Deutschlehrmethode

 In den 70‘er Jahren wurde die Lehrmethode, die im Fremdsprachenunterricht üblich ist, auf den Deutschunterricht übertragen. Der Lehrer kennt hier beide Sprachen - in unserem Fall Alemannisch und Hochdeutsch. Lese-, Rechtschreib- und Sprechübungen sind bei dieser Methode nicht, wie es bisher sein konnte, die gleichen wie in Hamburg oder Berlin, sondern sie sind auf die Sprachkenntnisse und die Schwierigkeiten der hiesigen Schüler abgestimmt. Der Lehrer kann die Schüler auf eine Erscheinung im Dialekt aufmerksam machen und sie erklären. Die Schüler werden sich dabei der Besonderheiten und Strukturen des Dialekts bewußt und verbessern unter Umständen sogar ihr Können im Dialekt. Dann kann der Lehrer die schriftsprachliche Besonderheit oder Struktur dagegensetzen, erklären und einüben. So wäre zum Beispiel zu erklären und einzuüben, daß im oberrheinischen Alemannischen das Zeitwort nach ‘ihr‘ nie auf t endet, im Hochdeutschen dagegen immer: ‘ihr geht‘, ‘ihr wart‘ usw. Das Ergebnis soll sein, daß der Schüler beide Sprachen auseinanderzuhalten lernt und sich ein weitgehend dialektfreies Hochdeutsch aneignen kann. Keine der beiden Sprachen muß durch die andere Schaden nehmen.

Im alemannischen Bereich haben W. Besch und H. Löffler an einer solchen kontrastiven Lehrmethode gearbeitet und eine entsprechende alemannisch-hochdeutsche Lehrergrammatik (19) mit unterrichtspraktischen Hinweisen verfaßt. Spezielle Lehreinheiten und Unterrichtshilfen fehlen bisher leider - zumindest in Baden (20). Und im Unterricht landauf landab hat die Methode offenbar keinen großen Eingang gefunden. Denn es ist dem guten Willen und den Möglichkeiten des Lehrers überlassen, ob er sich das nötige Wissen über den Dialekt aneignet und nach der kontrastiven Methode lehrt. Vielen Lehrern mag die Notwendigkeit, auf den Dialekt einzugehen, auch immer weniger sichtbar sein oder dringend erscheinen, denn immer mehr Kinder kommen ja mit scheinbar ausreichenden hochdeutschen Vorkenntnissen zur Schule. Verschiedene Lehrer versuchen, auch wenn sie die kontrastive Methode nicht anwenden, das Alemannische wenigstens am Rande zu fördern - zum Beispiel durch Theaterspielen oder durch die Behandlung von alemannischer Literatur. In diese Richtung gehen auch die Bemühungen des ‘Vereins zur Förderung der Landeskunde in den Schulen‘; er organisiert namentlich auch Mundartwettbewerbe.

Mir scheint sicher zu sein, daß bei einer gezielten Lehrerausbildung dialektsprachliche Schüler viel besser gefördert werden könnten. Entsprechend ausgebildete Lehrer müßten dann bevorzugt im betreffenden Dialektgebiet eingesetzt werden, so auch Lehrer, die Alemannisch von Haus aus können.

  Ob grad oder krumm: Hauptsache hochdeutsch?!

  Die Eltern wissen natürlich, daß dialektsprechende Kinder in der Schule, so wie sie jetzt auf den Dialekt eingestellt und vorbereitet ist, schlecht aufgehoben sind. Viele versuchen daher, den Kindern selbst schon von klein auf Hochdeutsch beizubringen. Dabei machen manche den gleichen Fehler wie viele Lehrer - sie unterdrücken den Dialekt oder werten ihn ab, obwohl er ihre eigene Muttersprache ist. Stattdessen bringen sie ihnen recht oder schlecht Hochdeutsch bei. Dabei kann es dazu kommen, daß Kinder weder den Dialekt sicher und gut lernen noch das Hochdeutsche und nur eingeschränkt fähig sind, sich überhaupt auszudrücken.

Es gibt keinen vernünftigen Grund dafür, das Kind nicht sorgfältig seine Muttersprache zu lehren. Im Kopf eines Kindes ist nicht nur für Hochdeutsch, sondern auch für gutes Alemannisch (oder umgekehrt) Platz. Während Eltern ihren Kindern den alemannischen Sonderwortschatz (von Äägerschd bis zingälä) nicht beibringen oder gar verbieten, lernen die Kinder mit größter Leichtigkeit von ‘Alf‘ über ‘Hanuta‘ bis ‘Zombie‘ Hunderte von Wörtern und Namen, die vielleicht in wenigen Jahren “out“ sind. Hunderte von Fußballernamen, Autonamen und Schlagertiteln werden in wenigen Jahren aus dem Spiel sein - doch die Erinnerung daran wird für niemand eine Last sein. Mehr noch ist jede Sprache, die man zusätzlich beherrscht, nicht eine Last, sondern eine Bereicherung.

Eltern im Alemannenland meinen oft, hochdeutsch zu können sei schon die Garantie für eine Karriere oder aber meinen, ein Versagen des Schülers läge an seinem holprigen Hochdeutsch. Wenn das so wäre, würden alle Arbeiterkinder Hannovers oder selbst Breisachs die Universität stürmen. Sie tun es aber nicht. Manch ein hochdeutscher Schüler verlebt eine leidvolle Schulzeit mit wenig Erfolg, seine Sprache allein hilft ihm nichts. Vielleicht mehr noch als auf das Talent kommt es auch auf die umfassende Förderung durch das Elternhaus an: Selbst wenn ein Kind oder ein Jugendlicher fließend Hochdeutsch kann, ist nicht gesagt, daß er sich Gedanken machen und bei Diskussionen, geistigen Auseinandersetzungen in der Offentlichkeit seinen Mann oder seine Frau stehen kann. So etwas muß von klein auf gelernt werden. Es ist leicht vorzustellen, daß bei Lehrerehepaaren eine andere Förderung (mitunter Über-Förderung) der Kinder stattfinden kann als bei Landwirten, die von Montag morgen bis Samstag nachts schuften. Ob die Eltern sich bei der geistigen Auseinandersetzung mit dem Kind des Hochdeutschen oder des Alemannischen bedienen, ist für die Förderung des Kindes egal, die Hauptsache ist, sie findet statt.

In Familien von Lehrern, Rechtsanwälten, Arzten usw. werden die Kinder oft außergewöhnlich gefördert; in solchen Familien existiert meist auch ein starkes, wenn nicht überhöhtes Selbstbewußtsein. Kinder aus solchen Familien sprechen manchmal mit fünf mehr als andere mit acht.

Wenn dagegen bei einer ländlichen Dialektsprecherfamilie der Start zur Karriere so beginnen soll, daß die Eltern erstmal ihre Kultur und Sprache verleugnen oder zurücksetzen und die Kinder einseitig zum Hochdeutsch-Sprechen anhalten, kann es zu bitterer Enttäuschung kommen. Anstatt Selbstbewußtsein nimmt das Kind aus einem solchen Elternhaus womöglich den Geist der Anpassung, der Unterwerfung, des Schweigens mit.

Wenn alemannische Eltern ihre Kinder von der Sprache abschneiden wollen, die sie selber sprechen, kann es auch zu erheblichen Identitätsproblemen, zu einer Entfremdung zwischen Kindern und Eltern kommen. Heinrich Löffler schreibt im Vorwort zur obenerwähnten Lehrergrammatik:

 

“Ob diese anerzogene Entfremdung am Ende ein Grund sein könnte für die Sprachlosigkeit der Beziehung vieler Jugendlicher zu ihren Eltern, möchte ich zwar nicht geradewegs behaupten, aber doch nicht prinzipiell ausschließen.“

 

Es soll nicht geleugnet werden, daß ein Dialektkind beim Schuleintritt mehr Probleme zu bewältigen hat als ein “hochdeutsches“ Kind. Es soll nur vor dem Glauben gewarnt werden, die Lösung sei die Unterdrückung oder die Vernachlässigung des Dialekts.

Wenn um der Karriere willen die Muttersprache geopfert wird, kann am Schluß herauskommen, daß beides nicht da ist: die Karriere nicht und auch die Muttersprache nicht mehr. Und wenn tatsächlich durch Unterdrückung des Alemannischen die Karriere ein bißchen beschleunigt werden könnte, wäre zu fragen: ist es das wert?

Was in unserer Gesellschaft wert ist und was nicht, hinterfragen wir weiter unten noch.