Alemannisches Dialekthandbuch vom Kaiserstuhl und seiner Umgebung

Sprachalltag im Breisgau - wie in einem besetzten Land

In den vergangenen Kapiteln haben wir eine Abnahme der Dialektsprecher an der Gesamtbevölkerung festgestellt - sie hat natürlich nachteilige Folgen für die Mundart und ihre Sprecher. Ein alemannischer Dialektsprecher muß mitten in seiner Heimat damit rechnen, daß er in öffentlichen Einrichtungen nicht überall verstanden wird und daß die Schuld daran ihm selbst gegeben wird. Das kann auf dem Postamt, auf einer Behörde, im Supermarkt, bei einer Diskussion an der Volkshochschule, bei einer öffentlichen Versammlung oder bei anderen Gelegenheiten sein. Das kann sein, wenn er im Krankenhaus liegt. (Über Schule und Rundfunk sprechen wir in gesonderten Kapiteln.) Besonders gravierend ist das natürlich im Ballungsraum Freiburg.

Für Zugewanderte besteht kein Zwang (und zum Teil auch keine Möglichkeit), Alemannisch verstehen zu lernen - und deshalb lernen sie es häufig nicht. Selbst Leute aus der verhochdeutschten einheimischen Elite runzeln mitunter verständnislos die Stirn, wenn sie alemannisch angesprochen werden. Dagegen verstehen fast alle hiesigen Dialektsprecher das Hochdeutsche gut

Der Zwang, sich sprachlich anzupassen, liegt auf den einheimischen Dialektsprechern, zumindest hat es sich so eingespielt. Die meisten Einheimischen beugen sich diesem Zwang und sprechen schon von alleine hochdeutsch oder abgemilderten Dialekt, wenn sie von irgendeiner Person hochdeutsch angesprochen werden. Und doch kommt es immer noch und immer wieder vor, daß Alemannen Hochdeutschsprechern echtes Alemannisch zumuten. Für diesen Fall kennt das Schachspiel zwei Gegenzüge:

* Zug a: Der hochdeutsche Gesprächspartner, der womöglich schon ein paar Jahrzehnte im badischen Ländle wohnt, sagt ein paar Mal “Wie bitte?“, ohne im einzelnen zu erklären, was er nicht versteht. Der alemannische Gesprächspartner muß dann annehmen, daß sein Gegenüber nichts versteht oder nichts verstehen will. Das Gespräch nimmt so gar bald eine Wende: Der Alemanne befleißigt sich des Hochdeutschen oder schweigt.

* Zug b: Der Kannitverstan wird konkret. Er sagt ein paar Mal:

“Härdebfel? Härdebfel? Was meinen sie denn damit? ... ahh, jetzt weiß ich‘s, sie meinen Kartoffeln!“

97 von 100 Alemannen wiederholen nun die Vorgabe und sagen, "ja, Kartoffeln". Und vermeiden das mindere Wort im weiteren Verlauf des Gesprächs.

Kommen wir nun zum umgekehrten Fall: Der Dialektsprecher versteht einen hochdeutschen Satz oder ein Wort nicht. Er würde nie wagen, zu sagen:

“I vrstand si nit, si mián scho áso schwátzá, wiá-mr bi uns do schwátzt.“

Auch der andere Fall wäre unerhört, ein Dialektsprecher sagt, wenn er ein Wort nicht versteht, niemals:

“Fleischer? Fleischer? was meini-si dánn mit Fleischer? ...á si meiná á Metzg! Já nadiirlig, á Metzg, sál isch eni in dr Härrágass!“

Sondern wenn ein Breisgauer Alemanne einmal ein hochdeutsches Wort nicht versteht, sagt er es brav nach, nachdem er es erfragt hat.

Hier stellt sich nun die Frage: Wer verhält sich richtig? Der richtige Platz, sich nach der Sprache der anderen zu richten, ist, wenn man fortgeht, wenn also ein Alemanne nach Hamburg, Leipzig, London oder Kairo geht. Die Breisgauer Alemannen passen sich dann in aller Regel an. Wenn einer von hier einmal ein paar Jahre in Mittel oder Norddeutschland lebt, nimmt er die dortige Sprache gewöhnlich an und behält sie nicht selten auch bei einer Rückkehr in den Breisgau noch bei. Manche kommen schon nach ein paar Monaten mit ‘wat‘ und ‘dat‘ zurück und haben den eigenen Dialekt, so will es scheinen, bereits verlernt.

Anders bei unseren Neubürgern und bei unserer alten, verhochdeutschten Elite hier im Breisgau: Es kommt so gut wie nie vor, daß einmal einer sagt:

“Ach sie nennen das ‘Hárdepfel‘? Das isch ja interessant! Also gut, geben sie mir einen Sack Hárdepfel.“

Anstatt das Wort ‘Hárdepfel‘ anzunehmen, nötigen die Hochsprachler den hiesigen Dialektsprechern oft genug ihr ‘Kartoffel‘ auf.

Allgegenwärtige Mission ...

Einer solchen Nötigung sind oft schon Zweijährige ausgesetzt. Es gibt Missionare der Hochsprache, die alemannischen Kindern selbst ihre ersten Worte in der Muttersprache im Mund umbiegen. Das Kind sagt ‘Roß‘ oder ‘Hüüs‘, die hochsprachlichen Lehrmeister korrigieren wohlmeinend: “Ja, das ist ein Pferd/Haus“. Und das nicht einmal, sondern dauernd. Da spielt es keine Rolle, daß auch die Eltern wissen, daß Hüüs auf Hochdeutsch ‘Haus‘ heißt und Ross ‘Pferd‘. Da wird auch nicht beachtet, daß die Eltern dem Kind ‘Haus‘ oder ‘Pferd‘ beigebracht hätten, wenn sie nur gewollt hätten. Nein, man fühlt sich durch eine Autorität, die über den Eltern steht, ermächtigt, einzugreifen und umzubiegen. Diese Autorität ist vielleicht der “Staat“, die “Hochkultur“, die “Gewißheit der Überlegenheit“ - man kann es nicht genau wissen, sie hat es nicht nötig, sich vorzustellen. Und niemand kann sagen, eine solche Einmischung, eine solche Missionstätigkeit sei unerhört - denn was die gesellschaftliche Regel ist, nennt man “normal“ und nicht “unerhört“.

In der alemannischen Diaspora, also in Freiburg, in den umliegenden Orten und in Orten wie Breisach, haben die Eltern und die Großeltern angesichts der allgegenwärtigen hochdeutschen Mission die allergrößten Probleme, ihren Kindern die alte Sprache überhaupt noch mit Erfolg zu vermitteln.

Alemannische Dialektsprecher im Breisgau, die nicht von alleine hochdeutsch sprechen, werden also oft genötigt, es zu tun - seien sie Erwachsene, Jugendliche oder Kinder. (Wir berichten auch im Kapitel über den Rundfunk über zwei solcher Fälle. Für die Schule versteht es sich sowieso von selbst. Es kommt auch in den Kindergärten vor, wenn auch nicht überall in gleichem Maß.) Wer ist schuld daran?

Der Verfasser will niemandem für ein überhebliches sprachliches Verhalten, das gesellschaftlich üblich ist, eine persönliche Schuld zuweisen. Ein selbstbewußteres Auftreten der Alemannen würde vielen Hochsprachlern ein Denkanstoß sein, nach dem sie die hier heimische Kultur als Kultur wahrnehmen und respektieren könnten. Der Verfasser meint nicht, daß Fremde oder sprachlich fremd Gebliebene schlechter oder weniger sensibel seien als Alemannen. Ich habe selbst 15 Jahre in der Fremde gelebt und gelernt, wie ähnlich sich die Menschen überall und von überall her sind. Ich erlebte aber auch: Überall wollen Menschen ihre Würde und ihre Identität wahren. Und wenn sie verletzt wird, sagen sie es - früher oder später. Eben das ist hier das Anliegen.

Doch fassen wir den Zustand noch einmal zusammen: Wegen der kulturellen Gesamtumstände im Breisgau hat meist der Einheimische den Schwarzen Peter in der Hand. Ein Dialektsprecher steht oft unter dem Zwang, mitten in seiner Heimat hochdeutsch sprechen zu müssen. Je öfter und je bereitwilliger er hochdeutsch redet, desto mehr verliert das Alemannische an allgemeinem Gebrauchswert, desto weniger besteht für die Zugezogenen und für die verhochdeutschte einheimische Elite die Notwendigkeit, die Regionalsprache verstehen zu lernen.

Nun wollen wir unsere Feststellungen nicht als Aufruf zu engstirniger Sturheit, zu hartherziger Rechthaberei verstanden wissen. Oft ist Hochdeutschsprechen oder das Bemühen darum angebracht; der Verfasser meint nicht, daß man flüchtige Gäste und blutige Anfänger mit archaischem Alemannisch traktieren sollte. Wer aber will, daß das Alemannische noch eine Zukunft hat, muß sein Rederecht mit Gefühl und Schritt für Schritt auch bei denjenigen Menschen durchsetzen, die das Alemannische nicht sprechen, die aber den Breisgau zu ihrem Lebensmittelpunkt gewählt haben.

 

Im Bereich der Kronenbrücke
Junge Frau brutal vergewaltigt

Der brutale Täter sprach Freiburger Dialekt

Diese Überschrift stammt aus der Badischen Zeitung vom 16. 10. 1991; die Kronenbrücke ist in Freiburg. Das Leben in der Diaspora bringt es mit sich, daß die Alemannen ihre Sprache auch als besonderes Kennzeichen auf den Steckbriefen der Kriminalpolizei finden. Ja selbst an Orten, wo die Dialektsprecher eine überwältigende Mehrheit bilden, kommt dies vor. Nun will natürlich auch der Verfasser dieser Zeilen, daß Verbrecher gefaßt werden und seien sie auch Alemannen. Die Frage ist nur, hilft es der Verbrecherjagd, wenn die hiesige Monopolzeitung nicht nur im Text, sondern auch in der Überschrift schreibt, der brutale Täter habe Freiburger Dialekt gesprochen? Wenn nein, warum tut man es trotzdem? Und: ist so etwas an einem anderen Ort denkbar? Also etwa, daß man in Berlin in die Überschrift schriebe, “der brutale Täter sprach Berlinerisch“? Wie kommt es, daß so etwas im Breisgau möglich ist?

In Hannover einen Verbrecher mit dem Merkmal “spricht hochdeutsch“ zu suchen, wäre sinnlos. Doch genau so fahndet man gelegentlich im Breisgau: So wurde über die Badische Zeitung (19. 5. 1992) in Endingen-Amoltern ein Einbrecher mit “Oberlippenbart“, “Pilzfrisur“ usw. usf. gesucht, und:

"gesprochen haben soll er hiesigen Dialekt"

In Amoltern und in der Umgebung sprechen - Gott sei Dank - noch fast alle Menschen Alemannisch (= “hiesigen Dialekt“). Wer arbeitet, macht Fehler, und warum nicht auch Kriminalpolizei und Zeitungsleute? Man bräuchte sich über ein überflüssiges Fahndungsmerkmal nicht weiter aufhalten - wenn es nicht gerade das Hauptmerkmal einer minderberechtigten Kulturgemeinschaft wäre. Die Frage ist: wie kommt es zu solch einem Freimut, warum nimmt man so wenig ein Blatt vor den Mund? Die Antwort kann nur auf die besonderen kulturellen Verhältnisse im Breisgau verweisen. Wir haben diese Verhältnisse schon in der Überschrift mit “wie in einem besetzten Land“ beschrieben. Und in besetzten und kolonisierten Ländern braucht man der angestammten Bevölkerung bei der Fahndung nicht zu schmeicheln. Offenbar auch nicht in Landschaften, die nur kulturell besetzt sind. Doch wir wollen dem Leser solche schwerwiegenden Vergleiche und Urteile nicht ohne weiteres Indizienmaterial zumuten und kommen daher zunächst auf das Rundfunkwesen in der fraglichen Landschaft zu sprechen.