Alemannisches Dialekthandbuch vom Kaiserstuhl und seiner Umgebung

Die historische Abwertung des Alemannischen

Inschrift am Wegkreuz am Krämerkäppele, OberrotweilDie alemannischen Literaturdialekte sind auch in ihren Rückzugsgebieten spätestens im Dreißigjährigen Krieg außer Gebrauch gekommen. An ihre Stelle ist ein Neuhochdeutsch nach Lutherschem Vorbild oder nach dem Vorbild der “süddeutschen Reichssprache“, dem Nachläufer der Kanzleisprache Kaiser Maximilians, getreten. Im gleichen Jahrhundert kam es, so Adolf Socin, zu einer “Blüthe der deutschen Litteratur im Norden und Osten, zumal in Schlesien, während die breiten Striche des deutschen Landes unter den Verheerungen des dreißigjährigen Krieges darnieder lagen.“ Die grammatische Regelung der deutschen Sprache ging daher im 17. und 18. Jahrhundert “fast ausschließlich vom protestantischen Norden“ aus. Die süddeutsche Reichssprache glich sich in vielem der Schriftsprache des Nordens und Ostens an.

Dennoch haben sich in manchen Gegenden und Orten Oberdeutschlands alemannische oder oberdeutsche Spuren in der Schrift noch lange gehalten, namentlich in katholischen.

Die abgebildete Inschrift auf dem Ghábiligriz (Kapellchenkreuz) an der Straße von Oberrotweil nach Burkheim aus dem Jahre 1777 weist mehrere alemannische Spuren auf. Der Steinhauer vom Ghábiligriz hätte auch “moderner“ schreiben können, er wollte aber offensichtlich nicht. Ähnlich altertümlich wirkende Inschriften finden sich auch auf Kreuzen in anderen Ortschaften. In den protestantischen Gemeinden finden wir bei Inschriften dieses Alters die Sprache der Bibel nach Luther.

Eine Landschaft “mit rauer Sprache“

Wie es im überwiegend katholischen Oberdeutschland mit der gesprochenen Sprache stand, kommt in einer Streitschrift des Georg Litzel (Megalissus) gegen den “undeutschen Catholick“ zum Ausdruck, die 1731 im sächsischen Jena veröffentlicht wurde:

“Die Catholicken sind darinnen unglücklich, daß sie meistentheils in solchen Landschaften gezeugt werden, worinnen eine raue Sprache in Gebrauch ist. Doch wohnen in jeder Landschaft Leute, davon einige nach der rauhen Mundart besser reden, einige schlechter. Da pflegen nun die Eltern gemeiniglich nicht darauf zu sehen, welchen von beiden sie ihre Kinder untergeben. Es gilt ihnen gleich, Mägde anzunehmen, sie mögen eine Sprache haben, wie sie wollen. Sie lassen es geschehen, daß ihre Kinder unter dem Gesinde herumlaufen und mit anderen Kindern spielen, von welchen sie sich keine gute Mundart angewöhnen. Ja, oft reden vornehme und gelehrte Eltern selbsten wie die grobe Bauern.“ (zit. nach A. Socin)

Das “Unglück“, in einer Landschaft mit „rauer Sprache“ geboren zu sein, wiederfuhr im oberrheinischen und Schweizer Teil Oberdeutschlands auch vielen Protestanten. Es wird bei ihnen auf den unteren Ebenen kaum anders zugegangen sein als bei der römischen Konfession. Zumindest in der Kaiserstuhlgegend hat sich bis heute in den evangelischen Ortschaften eine ähnlich "rauhe Sprache" wie in den katholischen gehalten.

Um die Sprache der höheren Bildungsschicht oder gar der Regierenden wird es nicht so “schlimm“ gestanden haben, wie Megalissus den Eindruck erweckt. Sie werden ein Neuhochdeutsch mit mehr oder weniger starker oberdeutscher Prägung gesprochen haben. Häufiger als heutige Herren werden sie daneben noch die Volkssprache beherrscht oder wenigstens ihren Ton nachzumachen gewußt haben.

Die Geringschätzung der oberdeutschen Dialekte, die aus den Worten des Megalissus spricht, wurde von vielen Schriftstellern, gerade in der literarischen Hochburg Sachsen, geteilt. Doch selbst in Festungen des Alemannentums erfuhr die Volkssprache eine Abwertung. Dafür ein Beispiel: Bereits 1680 ist den Predigern im protestantischen Bern befohlen worden, “sich des affektierten neuen Deutsch zu müßigen“. 1748 wurden die Geistlichen in einer neuen "Prädicantenordnung" ermahnt, “sich in dem Vortrag ihrer Predigt nicht einer 'allzu schlechten, verächtlichen Mundart und dem Worte Gottes unangemessenen Redart und Gleichnissen' zu bedienen“. Ein Teil der Predigten wurden daher in Bern nicht von der Kanzel herunter, sondern beim Taufstein gehalten, schreibt A. Socin, "damit der Sprecher sich desto eher der Volkssprache bedienen dürfe". Alemannisch am Taufstein unten wurde also eher geduldet als Alemannisch auf der erhabenen Kanzel oben.

Goethe, Hebel und Hansjakob über die Unterdrückung des Dialekts

Die Unterdrückung der Dialekte erfuhren auch der Franke Goethe und der Schwabe Schiller am eigenen Leib. Was etwa dem jungen Goethe im sächsischen Leipzig (1765 - 1768) widerfuhr, mag allen Kaiserstühler Oberschülern und ihren Eltern zum Trost gereichen, die meinen, die Karriere müsse durch Verschulden des Dialekts schon zu Ende sein, noch bevor sie begonnen hat.

Goethe war nämlich, wie er in ‘Dichtung und Wahrheit‘ schreibt, “in dem oberdeutschen Dialekt geboren und erzogen“, er sprach Frankfurterisch. Sein Vater hielt ihn zwar zu einem “besseren Sprechen“ an, dennoch waren ihm bei seiner Ankunft in Leipzig "gar manche tiefer liegende Eigenheiten“ geblieben. In diesen Eigenheiten gefiel er sich (!), hob sie “mit Behagen hervor“(!), zog sich dadurch aber von seinen “neuen Mitbürgern jedesmal einen strengen Verweis“ zu. So schreibt er ungefähr 1812/13, schon mit einem Vierteljahrhundert Abstand zu seiner Leipziger Zeit, und fährt fort:

“Jede Provinz liebt ihren Dialekt: denn er ist doch eigentlich das Element, in welchem die Seele ihren Atem schöpft. Mit welchem Eigensinn aber die meißnische Mundart die übrigen zu beherrschen, ja eine Zeitlang auszuschließen gewußt hat, ist jedermann bekannt. Wir haben viele Jahre unter diesem pedantischen Regime gelitten, und nur durch vielfachen Widerstreit haben sich die sämtlichen Provinzen in ihre alten Rechte wieder eingesetzt. Was ein junger, lebhafter Mensch unter diesem beständigen Hofmeistern ausgestanden habe, wird derjenige leicht ermessen, der bedenkt, daß nun mit der Aussprache, in deren Veränderung man sich wohl ergäbe, zugleich Denkweise, Einbildungskraft, Gefühl, vaterländischer Charakter sollten aufgeopfert werden.“

Mit der “meißnischen Mundart“ meint Goethe die Sprache der Gebildeten Obersachsens - sie war die tonangebende Form des Neuhochdeutschen. Der Psychoterror dieser Gebildeten schüchterte Goethe soweit ein, dass er, wenn man seinen eigenen Worten glauben darf, in Leipzig den Mund fast nicht mehr aufbrachte. Er schreibt:

“Ich fühlte mich in meinem Innersten paralysiert und wusste kaum mehr, wie ich mich über die gemeinsten Dinge zu äußern hatte.“

In seinem Innersten gelähmt zu sein! Welcher Kaiserstühler Dialektsprecher kennt nicht dieses Gefühl, wenn er in “hochsprachlichen“ Kreisen verkehrt, die ihn nicht verstehen können oder nicht verstehen wollen? Wir kommen im zweiten Teil des Buches darauf zurück. Bei Goethe ging es freilich kaum um das sprachliche Verständnis; er war in seinen Leipziger Jahren bereits Meister der Hochsprache. Es ging lediglich um Aussprache und Stil.

Johann Peter Hebel (1760 - 1826) fand das Alemannische als "verachtete und lächerlichgemachte Sprache" vor. Durch seine Dichtung fand die alte Sprache neue Berühmtheit (Celebrität). Wilhelm Altwegg zitiert den im Wiesental gebürtigen Dichter im Vorwort zu seiner Hebel-Werksausgabe:

“Ich kann in gewissen Momenten in mir unbändig stolz werden und mich bis zur Trunkenheit glücklich fühlen, daß es mir gelungen ist, unsere sonst so verachtete und lächerlich gemachte Sprache klassisch zu machen und ihr eine solche Celebrität zu erringen.“ (Johann Peter Hebels Werke, Teil 1, Atlantis-Verlag Berlin-Zürich, o.J.)

Die ‘Alemannischen Gedichte‘ von Johann Peter Hebel erschienen 1803 in erster Auflage. An ihrem literarischen Ruhm dürfte der oben schon zitierte Johann Wolfgang von Goethe nicht ganz unschuldig sein, der sich als Jüngling in Straßburg verliebte und dabei - wes Wunder - auch das Alemannische liebgewann. Er schrieb 1805 eine sehr wohlwollende Kritik der Alemannischen Gedichte, vermag darin mitnichten, seine überschwängliche Freude an dieser Sprache zu verhehlen. Die Alemannischen Gedichte wurden damit zur Pflichtlektüre auch derjenigen Literaturfreunde überall im deutschen Land, die sonst dem Alemannischen durchaus abhold sind.

1812 schreibt Goethe im thüringischen Weimar, seiner Wahlheimat, anlässlich einer Neuauflage der wohl berühmtesten deutschen Mundartgedichtesammlung:

„Hebels abermalige ‘Alemannische Gedichte‘ geben mir den angenehmen Eindruck, den wir bei Annäherung von Stammverwandten immer empfinden.“

Im ostmitteldeutschen Sprachraum, in der Umgebung gebildeter Gesellschaftskreise, fühlte sich der Rheinfranke also dem Alemannen stammverwandt. Hier empfindet sich Goethe offenbar als Oberdeutscher. Vielleicht wollte er mit seinem “ich war nämlich im oberdeutschen Dialekt geboren und mit seinem Bekenntnis zur Stammverwandtschaft mit Hebel einen sprachlichen und kulturellen Gegensatz andeuten, wie man ihn heute mit den Begriffen “Norddeutsch“ und “Süddeutsch“ zum Ausdruck bringt, wobei er sich von den Wurzeln her Letzterem zugehörig fühlte.

Goethe ist auch von den Worten zur Tat geschritten: Obgleich er nur auf kurzen Reisen in der Schweiz weilte, konnte er es nicht lassen, sich im Schweizerdeutschen zu versuchen. Er schrieb, so gut wie er es konnte, ein kleines Gedicht auf Alemannisch. (Wir haben uns schon S. 93 damit beschäftigt.) Dieses ‘Schweizerlied‘ beginnt:

“Uf‘m Bergli / bin i gesässe, / ha de Vögle / zugeschaut; / hänt gesunge, / hänt gesprunge, / hänt ‘s Nestli / gebaut.“

Wie können es bloß andere Geistesgrößen in unserem Land jahrzehntelang aushalten, ohne auch nur "Guten Tag" auf Alemannisch herausbringen zu wollen?

Heinrich HansjakobDaß die literarische Aufwertung des Alemannischen keine nachhaltige Aufwertung im täglichen Leben bedeutete, läßt eine Tagebucheintragung von Heinrich Hansjakob erahnen. Nach dem, was dieser katholische Geistliche schreibt, erscheint auch die Einschätzung Goethes als voreilig, “die sämtlichen Provinzen“ hätten sich im Bezug auf den Dialekt “in ihre alten Rechte wieder eingesetzt“. Der gebürtige Kinzigtäler notiert nämlich 1897 in der Freiburger Karthause:

“Bei uns Süddeutschen kümmert sich kaum ein Mensch mehr um den Dialekt. Da regt sich keine Katze für die Erhaltung und Wertschätzung der Volkssprache. Im Gegenteil, in unseren Schulen, Amtshäusern, Gerichtshallen wird derselben der Krieg erklärt und dieselbe verhöhnt und verspottet. Spricht einer bei uns vor Gericht preußisch, so hört der Amtsrichter andächtig zu; redet aber ein Bauer in seinem Dialekt und der reserveleutnantliche Richter oder Beamte, der bisweilen sogar noch ein echter Preuße* ist, versteht die Rede nicht, so wird der Mann angeschnautzt und ihm zugeschrien, er solle “deutsch“ sprechen (...).“

In der Fußnote führt Hansjakob aus:

*) „Im badischen Ländle spielen Leute aus aller Herren Länder eine Rolle, ein Preuß aber gilt vielfach mehr als ein Badischer.“

Die Abwertung einer Sprache ist immer verbunden mit der Abwertung ihrer Sprecher. Die Abwertung des Alemannischen hat auch staatspolitische Ursachen; von ihnen ist im nächsten Kapitel die Rede.