Alemannisches Dialekthandbuch vom Kaiserstuhl und seiner Umgebung

Schriftliche Zeugnisse des Altalemannischen

Ausgerechnet der Befehl eines fränkischen Herrschers sollte zu den ersten Niederschriften des Alemannischen führen - Karl der Große erließ nämlich 789 einen Befehl, nach dem das Vaterunser und das Glaubensbekenntnis in die Volkssprachen (also in die Sprachen der Franken und der von ihnen unterworfenen Stämme) übersetzt und dem Volk erklärt werden sollte. Durch die Stärkung des christlichen Glaubens sollte die fränkische Macht geistig abgesichert werden.

Auf diese Zeit gehen die zwei ältesten erhaltenen Bücher in deutscher Sprache zurück. Eines davon ist der 'Abrogans', ein lateinisch-altalemannisches Wörterbuch. Er enthält auch lateinische geistliche Texte mit vollständigen alemannischen Übersetzungen und ist nach Georg Baeseke um 790 im Kloster Murbach im Elsaß, keine 60 Kilometer vom Kaiserstuhl entfernt, geschrieben worden. Wir führen daraus die ersten Zeilen des Vaterunsers in Altalemannisch und Lateinisch auf.

Fater unseer thu pist in himile / uuihi namun dinan / qhueme rihhi diin / so in himile sosa in erdu Pater noster qui es in caelis / sanctificetur nomen tuum / Adveniat regnum tuum / Fiat voluntas tua / sicut in caelo et in terra
Dem Übersetzer standen nur die fürs Lateinische gebräuchlichen Schriftzeichen zur Verfügung; andere Sprachen wurden damals noch nicht geschrieben. Mit diesen Zeichen mußte er versuchen, alemannische Laute wiederzugeben, die es im Lateinischen gar nicht gab. So hat er zum Beispiel 'uu' für einen Laut, der dem heutigen 'w' ähnelt, oder 'hh' für einen ch-Laut  (einen starken Reibelaut) geschrieben. Dieses Altalemannisch erscheint uns daher in der Art, wie es verschriftet ist, fremder als es wirklich ist.  Die klangvollen Endungen (namun, uuillo, erdu usw.) erinnern noch ans Indogermanische, sie waren aber schon damals nicht mehr betont. Man lese sie auch nicht gedehnt, also nicht etwa "erduu".

Bei diesem Text fällt auf, daß der Übersetzer im Alemannischen die Reihenfolge der lateinischen Wörter nachmacht, sodaß es zum Beispiel "komme Reich dein" heißt. Er mag es als frevelhaft empfunden haben, mehr als nötig von der kirchlichen Sprache abzuweichen.

Über 200 Jahre später übersetzte Notker Labeo in Sankt Gallen wie folgt. Es ist von der heute gebräuchlichen hochdeutschen Fassung her leicht zu übersetzen; wir drucken es mit der freien, neualemannischen Fassung von Karl Kurrus ab.

Fater unser dû in himile bist / Dîn namo uuerde geheîligot / Dîn rîche chome / Dîn uuillo gescéhe in erdo / also in himile Dü liabe Herrgott im Himmel obe / Di Namme wä-mr ehre, lobe. / Fir Di Rich schänk is gnädig Muat. / Was Dü witt, des isch allewil guat, / un des soll gschehne uf dr Welt / grad wia in dinem Himmelszelt.
Ein Sprachgewaltiger des Altalemannischen

Notker Labeo lebte etwa von 950 bis 1022 und war Vorsteher der Klosterschule von St. Gallen. Er wagte, wie er sagte, "beinahe Unerhörtes" - er übersetzte nämlich ohne Wenn und Aber kirchliche Bücher in die Volkssprache und kommentierte sie alemannisch. Bisher war das Lateinische nahezu unangefochten im Mittelpunkt gestanden und die Volkssprache war lediglich als Hilfsmittel benutzt worden, um das Lateinische zu lernen oder zu verstehen. In einem lateinischen Brief schreibt Notker über seine Beweggründe:

"Ich bin mir zwar bewußt, daß Ihr zunächst davor (vor Texten in der Volkssprache, H.N.) zurückschrecken werdet wie vor etwas Ungewohntem. Aber nach und nach werden sie Euch vielleicht belieben und Ihr werdet sie zu lesen vermögen und erkennen, wie schnell man in der Muttersprache begreift, was man in einer fremden Sprache kaum oder nicht völlig erfassen kann."  (zitiert nach S. Sonderegger 1970)

Allein durch die Schriften Notkers sind uns fast 8000 altalemannische Wörter überliefert, darunter zahlreiche Neuschöpfungen. Dazu gehört zum Beispiel 'gi-wizzan-i' (Gewissen), das Notker dem lateinischen Wort 'con-scient-ia' nachgebildet hat (EW).

Seine Schüler nannten Notker auch 'Notker Teutonicus', was oft tendenziös mit 'Notker der Deutsche' übersetzt wird. Gemeint ist aber 'Notker der Volkssprachliche". Notker selbst wird sich wohl kaum als "Deutscher" gefühlt haben. Das Wort 'deutsch' kommt (nach Hans Eggers) in seinem riesigen Gesamtwerk gerade sechs Mal vor und zwar, wie Eggers schreibt, in "formelhafter Einschränkung auf die Sprachbezeichnung", Notker schreibt jedes Mal "in diutiskun" (= auf deutsch). Damit ist gemeint 'in der Volkssprache' und diese war im Wirkungskreis Notkers Alemannisch.

Das Altalemannische Notkers und anderer Schriftsteller und die in anderen hochdeutschen Dialekten geschriebene Literatur jener Zeit benennt man mit dem übergreifenden Namen 'Althochdeutsch'. Dieser Begriff ist natürlich mit Vorsicht zu genießen, er vermittelt "ein falsches Bild, weil es sich dabei um keine Einheitssprache handelt" (W. König). Dennoch sind wir gezwungen, auch in diesem Buch den Namen 'Althochdeutsch' mitzuschleppen, da ihn fast alle Autoren und Nachschlagwerke, auf die wir uns stützen, benutzen und meist nicht nach Stammesdialekten weiter differenzieren.

Für den schweizerischen Sprachwissenschaftler Stefan Sonderegger bildet das Werk und die Gestalt Notkers die Krönung der althochdeutschen Sprachgeschichte überhaupt.