Hermann Burte: Madlee - Alemannische Gedichte.

Vor 100 Jahren vollendet, vor 90 Jahren erschienen.

 Hermann Burte vollendete das Manuskript zu seinem Band "Madlee - Alemannische Gedichte" bereits im Jahr 1913. Sein aus Basel stammender Verleger Gideon Karl Sarasin war von den Gedichten begeistert; verzögert durch den Ersten Weltkrieg konnte das Buch erst 1923 erscheinen. Es folgt eine Besprechung von Otto v. Greyerz aus dem Jahr des Erscheinens.

Otto von Greyerz: "Madlee"

Zuerst erschienen in: Schweizerische Monatshefte für Politik und Kultur, 3. Jahrgang, November 1923, Heft 81
Otto von Greyerz (1863 - 1940) war Professor für Sprache und Literatur der deutschen Schweiz und Literaturkritiker.
[Die Worterklärungen wurden 2009 hinzugefügt.]

Es lyt en Acher brooch,
Dä mueß me struuche.
My liebi Muedersprooch,
Die will i bruuche.

[Acher = Acker; struuche = pflügen]

    Dem alemannischen Badnerland ist in Hermann Burte ein Mundartdichter von so starker und üppiger Eigenart entstanden, daß man alle Vergleiche aufgeben muß. Man kann ihn wohl mit anderen vergleichen, man muß ja, um Distanz zu gewinnen; aber diese Vergleiche führen immer zur Ungleichheit und zur Unvergleichbarkeit. Man kann und wird ihn natürlich vor allem J. P. Hebel gegenüberstellen; stammt er doch aus demselben Erdenwinkel und hängt mit gleicher, nur noch leidenschaftlicherer Liebe am Land und Volk des Wiesentals - Lörrach ist seine Heimat - und kann sich im Preis des Landes nicht genug tun:

Weisch - Heimeth! fehl der, was der well,
De bisch un blibsch e Fund,
E Blick uf Di macht uf der Gstell
Die müeden Auge gsund,
I sag un sing all 's nämlig Diing
Dy Priis viil dausigwiis!
Vo Dir eweg findt Aine ring
Ins ander Paradiis!

['s nämlig = das selbe; dausigwiis = tausendfach; ring = leicht]

     Allein welche Zeit und welcher Zeitwandel trennt nicht die beiden Dichter voneinander! Für Hebel war das Wiesental noch ein Idyll, das Volksleben wie das Land, und so ist auch seine Dichtung ein Idyll geworden. Burte kennt es auch noch in diesem lieblichen Glanze:

Das isch my Rebland, jo, voll Sunneschy.
E linde Luft goht in de dunkle Bäume,
Es glänzt e Pflueg, e Glocke lütet näume,
die stille Dörfer schlofe rüeihig ii.

[neume = irgendwo]

    Aber seither ist die Industrie, die sich bei Hebel noch ins friedliche Gesamtbild einfügt, zur Macht gelangt, hat Landschaft und die Gemüter verändert, soziale Not, sozialen Streit und Haß hereingebracht und die grünen Wiesen mit Trauerflor überschattet:

Isch das my Land vom Feldberg bis an Rhy?
Wo hoochi Cheemi stöhn wie Fahnestange,
Wo schwarzi Cholefähne drüber hange
Un mummle d'Wiese wie mit Laidflör ii?
Das isch my Webland, jo, my Land im Dhal,
Wo hunderttausig flinki Reedli sure,
Wo d'Schiffli zucke dur e Zedel dure,
wo wiißi Düecher wachse dhüen im Saal.

[Cheemi = Kamin; Schiffli, Zedel = aus der Webtechnik; wachse dhüen = wachsen, wrtl.: wachsen tun]

    Nicht das Wiesental allein, die ganze Welt hat in den hundert Jahren seit Hebels Tod ihr Angesicht verwandelt. Die naive Freude am Dasein, die kindlich gläubige Zuversicht zum "Ende gut - alles gut", das gemütvolle sich Versenken in die Natur, die Auffassung des Lebens als einer Erziehungsanstalt Gottes, aus welcher nur der Ehrliche und Pflichtgetreue endlich reif und glücklich hervorgehen kann - das alles ist verschwunden. Aufklärung durch Naturwissenschaft, pessimistische Weltlehre, materialistische Einschätzung der Lebensgüter, Erschwerung des Erwerbs, Verschärfung aller politischen Gegensätze und viel anderes noch hat das Idyll gründlich zerstört und den idyllischen Dichter fast zu einer unmöglichen Erscheinung gemacht. Selbst für eine Vollnatur wie Burte, einen unbändigen Lebensgenießer und Lebenswecker wie er, ist der Tod unser bestes Teil. In einem warmen Nachruf an einen "toten Kameraden", der mit zehn Jahren schon, ein gesunder und reiner Knabe, aus dem Leben scheiden mußte, liest man die Betrachtung:

Jetz het er däne glebt un ich doniede
Ne Menschenalter lang: I duuschti gärn!
Doch will der das nit adhue, bliib in Friede
Dört obe, Robi, uf Dym haitre Stärn!
Denn d'Aerde, dasch e bös verwirlti Chnuule:
Me spürt sy Läbe numme, wils aim queelt,
Un wemmes gwohnt isch, fangt me scho a z'fule -
Du hesch by Wytem 's besser Dail erwehlt!

[däne = drüben; doniede = hier unten; duuschti = würde tauschen; der = dir; Chnuule = Kneuel; numme = nur; wemmes = wenn man es]

    Auch die Kunst hat seit Hebel Wandlungen durchgemacht, die an einem von tausend Kräften und Säften der geistigen Welt großgezogenen Kind seiner Zeit wie Burte nicht spurlos vorübergehen konnten. Ist Hebel noch Realist in all seiner idyllischen Lebensschilderung, so ist Burte Naturalist. Nicht im Sinne der naturalistischen Lehre, die den Stoff für nebensächlich erklärt; wohl aber im Sinne einer schärferen, ungeleckten und mitunter erbarmungslos wahren Wiedergabe der Wirklichkeit. So z. B. in dem Gedicht "Erschossenes Liebespaar", wo der Gesichtspunkt und der ganze Ton der Darstellung, besonders in den ersten Strophen, aus der Denk- und Sprechweise den Fabriklerinnen herausgeholt ist.

By de Fohre dobe het mes gfunde
Arm in Arm e Liebesbärli dod:
Es im Härz inn, er im Chopf e Wunde,
Baid in ainer Lache, bluetigroth.
     Selbstmord offebar!
     Me vergrabt das Baar
An der Muur, wo um der Chilchhof goht.

s'lütet e kai Glocke, numme d'Huppe
Hürne haiser in der Weberei;
d'Maidli gönge haim in chlyne Gruppe,
Am Gottsacher füehrts der Weg verbei,
    Gwunderig göhn sie hi
    Un do gwahre sie
(s'gruust hehlinge alle!) selli zwei!

Jessis, in ere Chiste so verloche!
Sins denn kaini Mensche, sone Schand!
Hets der Pfarer us em Himmel gsproche,
Wil sie gstorbe sinn vo aigener Hand?
    Nei, es duurt aim so,
    Lueg, so chas aim go,
Wer das duet, isch nimme bym Verstand!

[es im Härz = sie im Herz; Fohre = Kiefer, Föhre; Lache = Pfütze; Chilchhof = Kirchhof, Fiedhof; hürne = blasen ;Gottsacher = Gottesacker, Friedhof; gönge = gehen;  hehlinge = heimlich; selli = jene; verloche = vergraben; us em Himmel gsproche = aus dem Himmel verbannt; es duurt eim = es tut einem Leid]

    Es wird weiter ausgeführt, wie die Fabrikmädchen aus natürlicher Teilnahme, ohne alle Sentimentalität, dem unglücklichen Liebespaar einen grünen Granz winden und dazu ein Lied singen, von einer Marie angestimmt, die eine schöne Altstimme hat. Den Granz legen sie aufs Grab, und der Dichter, auch er ohne alle Weichlichkeit, herb sarkastisch noch im Schlußreim sein Mitgefühl unterdrückend, sagt:

Bravi Maidli hän der Dag dur gwobe
Menger ziehts am Gnick as wie ne Gwicht,
Jetze göhn sie schwigsam haim im Oobe,
Rothi Auge im verhüülte Gsicht.
    Wo der Pfaff ächt blibt?
    Weisch denn nit, er schribt:
Über Landtagswahl un Christepflicht.

[menger = mancher; verhüült = verweint

    Der Gegensatz zu Hebel liegt nicht nur im Zeitalter, er liegt im Blut der beiden Dichter. Der Verfasser der Alemannischen Gedichte von 1803 war bei ihrem Entstehen und Erscheinen schon über das Schwabenalter hinaus, innerlich abgeklärt und beruhigt, auch von Natur zu maßvollem Lebensgenuß, humorvoller Beschaulichkeit und mildem Urteil angelegt. [...In Burtes jugendlichem Blut sind wilde Wirbel und dunkle Gewalten, die ihn abwärts nach der Erde ziehen, aber auch mächtige Sehnsuchten nach der Höhe und Freiheit. Geist und Seele liegen oft im Kampfe miteinander. Der Geist ist der räuberische Weih, der sich auf die unschuldige Taube, die Seele, stürzt.

Sie fäcklet, er päcklet,
E Pfiff un e Griff,
E Gruppes, e Tschuppes,
Er schlacht sie - vorbei!
My Seel isch e Duube,
My Geischt isch e Weih!

 [fäcklet = flügelt; päcklet = packt; Gruppes = Anstrengung; Tschuppes = Zerzausen; schlacht = schlägt] 

    Oft ist er sich nur des inneren Zwiespalts, des Krankhaften und Ungeläuterten in seinem Wesen bewußt:

Ich weiß es wohl, i bin e chranke,
Verheite Mensch und ha kai Rueh.

[verheite = zerbrochener]

    Er weiß auch: dem Gewebe, das sein Hirn ununterbrochen spinnt und spinnt, fehlt die Sonne, die es rein bleichen könnte:

E raini Riiste, suufer gspunne,
Es geb miseel e nobel Duech,
Wenn's bleichet wurd in deere Sunne:
- So glängt's halt numme zueme Buech.

[Riiste = Spinnwerk; suufer = sauber; miseel = bei meiner Seele; deere = dieser; glängt = reicht]

    Aber dann wieder fühlt er den höheren Sinn und Wert seines Dichtens, weil er nicht allein, sondern der Geist eines Ganzen, einer Landschaft und eines Volkes, daraus redet:

Zoge hämmer's ussem Lebe,
Gwachse isch's wie Wy an Rebe,
d'Sunn duet in der Nässi schwebe:
Weltgeischt! Ärdgu! chumm versuech!
Sonen Ode weiht im Buech.

[Ärdgu = Geschmack der Erde; sonen = so ein; weiht = weht]

    Und dieses Gefühl, daß es in all seinem Widerspruch von Fleisch und Geist, Leidenschaft und Weisheit, Weltsucht und Frömmigkeit, Haß und Liebe eine Vielheit und Gesamtheit vertritt, sodaß, wie er einmal sagt, "Jedes Ich bedütet Alli", - dieses Gedicht rettet ihn immer wieder aus der Einsicht in seine menschliche und dichterische Unvollkommenheit. So auch im Gedicht "Inhalt":

My gringi Chunst isch wäger nit für Alli!
Doch mengmol maini: Alli stäcke drinn.
Es isch wies isch: un miinesgliche gfalli:
    Guet, as es wenig sin.
Chumm, liebe Landsma, lies do in mym Wese,
I ha jo vorher glese lang in Dym!
Un bisch derdur, steck Maie oder Bäse
    Mym heerte gspeerte Rym.
Un wenns di näume überzwerich froge,
Oeb Du dem Chaibe Buech sy Inhalt chennsch,
Sag numme graduus, bschaide un verwoge:
    "Was drin stoht? Halt e Mensch!" 

[wäger = wahrlich, wohl; mengmol = manchmal; derdur = hindurch; Maie = Blumen; heert = hat; gspeert = gesperrt; näume = irgendwo; überzwerich = quer, renitent; Chaib = Kerl, Schelm; Chaibe Buech = wahnsinns Buch;]

    Burte müßte kein Alemanne sein, wenn nicht auch gewisse gemeinsame Züge des Stammescharakters ihn mit Hebel verbänden. Das innige Erleben und Vermenschlichen der heimatlichen Natur, das sinnige Betrachten menschlichen Treibens, die Liebe zu den einfachen Kindern des Volkes - das ist alles vorhanden und oft wie aus Hebels erster Hand. Und doch ist es nicht ganz das Gleiche. Eine größere Fülle und Wucht des Gefühls, ein weiterer Schauplatz des Geistes, eine kräftigere Mischung von Leid und Lust, und im Grunde, statt der friedlichen Harmonie, ein tiefes Weh, das immer wieder zuckt und blutet. Die unbändige Wein- und Liebeslust, die frech und sicher alle Temperenz und Sittenlehre herausfordert, kann darüber nicht hinwegtäuschen. Des schäumenden Bechers Neige ist mit Bitternis gemischt; auf das tolle Trinklied, das mit Glaszerschmettern dem Tode trotzt:

An d'Wand das Glas! Schmeuß! - Schärbe
Bidüte Glück! Tsching! Bäng!

folgt ein unheimliches Schweigen. Oder irrt sich der Leser? Ist das Trinklied "in der saufludigen, weinseligen, schoppenheurigen Mannsweis" nur eine nachgeahmte Burleske, ein dichterisches Exercitium Salamandri und hat weiter nichts zu bedeuten? Oder erklärt sich dieser zügellose Ausbruch von Lebenslust vielleicht doch aus einem zerrissenen, zwischen Gott und dem Teufel hin- und hergezerrten Gemüt, das eben darum sich so wild gebärdet, weil es die Himmelsruhe sucht, und darum so gottergeben betet, weil es die Hölle kennt! Jedenfalls ist diese Poesie mit ihren unglaublichen Gegensätzen das Bekenntnis eines Dichters, der von sich sagen kann:

Ich bin kein ausgeklügelt Buch,
Ich bin ein Mensch mit seinem Widerspruch.

    Ich kann alles sein, ein Schwelger und ein Lebensverächter, ein Egoist und ein Menschenbruder, ein Spötter und ein Anbeter, ein Teufelsbalg und ein Kind Gottes - in einem bin ich so wahr wie im anderen. "Und was der ganzen Menschheit zugeteilt ist", alles Höchste und Tiefste, was an den Grenzen der Engel- und der Tierwelt liegt und wovon der temperierte Durchschnittsmensch fast nur noch eine Ahnung vom Hörensagen her hat oder von der Lektüre, das lebt und wogt und streitet sich alles in mir, heute so, morgen anders - und weil ich ein Dichter bin, gebe ich ihm Klang und Gestalt im Wort.
    Darum zynisch freche Verneinung auf der einen, frommer Kinderglaube auf der anderen Seite des Buches; dort dreckige Gassenschlemperlinge, hier alle Holdseligkeit, deren die Sprache fähig ist.

     Glauben, Hoffnung, Liebe.

Euse Glaube dasch der Mond am Himmel,
Wo so rueihig abeschint un mahnt
Aim an selli Haimeth ob em Gwimmel,
Wo me nie cha fasse, aber ahnt ...
d'Hoffnig isch e zaarte Regeboge,
Zeichnet uf der dunkle Wulkewand.
Ammig simmerem ergegezoge
Hän en welle griife mit der Hand.
Aber d'Liebi, dasch die goldni Sunne,
Wo so heerlig in de Himmle stoht,
Alles Lebe quillt us ihrem Brunne,
Ohni sie weer alles ewig dot.
Ohni d'Sunne glänzt kei Regeboge
Ohni d'Sunne schiinti nie kei Mo ...
Ohni d'Liebi isch kai Himmel zoge,
Isch kai Hoffnig un kai Glaube do.

[euse = unser; dasch = das ist; abeschint = herunterscheint; aim = einen; selli = jene; ammig = ehemals; simmerem = sind wir ihm; welle = wollen; heerlig = herrlich]

    Und jenes andere, das, unter dem Titel "Mondnacht" mit mehreren vereinigt, das Erwachen und Wiedereinschlafen eines Säuglings an der Mutterbrust mit Werden und Vergehen des Menschen vergleicht:

Du schöni Zyt, o Juged, wo bisch ane?
Unschuldig Chind in dyner Seeligkeit?
Wo hochi Stärne uf de wyte Bahne
Wie nochi Blüemli in de Hörli treit,

Wo no de großen Auge vo der Mueder
Wie no nem Mo mit syne Händli längt,
Wo zue der Sunne s'Müüli hebt, wie zue der
Vollkommene Bruscht, der wiiße, wonen tränkt?

Isch Ain denn mehr as sone Wickelbüebli,
Wo us em erste Traume wachber würd,
Un wieder iischloft, wenn er gar e liebli
Liis Liedli hört un d'Muedernöchi gspürt?

[nochi = nahe; Hörli = Häärchen; treit = trägt; längt = fasst; Müüli = der kleine Mund; no = nach; Ain = jemand; liebli liis Liedli = liebliches leises Liedchen]

    Soll ich auch vom Gegenteil eine Probe geben? Etwa das Lied von den "edlen Säufern", von denen es im Kehrreim heißt:

Sie göhn nit under, wil sie suufe,
Sie suufe, wil sie undergöhn!

    Oder jene Abfertigung des "Lebensmüden", der keine rechte Freude und Trauer, kein Beten und Fluchen mehr fertig bringt und doch das Weinen zu vorderst hat, und dem der Dichter als einzige Lösung Kurzschluß empfiehlt:

 Eh so pflenn doch e Schwetti, se plär doch emol!
Un - do hesch e Hälsig! un dört isch e Pfohl!

[Schwetti = Wasserschwall; Hälsig = Halsstrick]

    Oder die abstoßende Parodie zu Schillers "Ideal und Leben":

Näume duet aim öbbis schwane,
Wemme jung isch, wiif un flink,
Meint me, uff der Schloßaltane
Stüend e Dame un sie wink,
Streck aim frei ne Becher ane:
Liebe Jüngling, chumm un drink!

Aber luegt me vo der Nöchi,
Isch sell Schloß e Guggehuus
Un vom Läubli in der Höchi
Leert e Magd e Wäschgschir us.

[näume = irgendwo; öbbis = etwas; Nöchi = Nähe; wiif = quicklebendig; stüend = stünde; Guggehuus = Dachgaupe; Läubli = kleine Laupe; Höchi = Höhe]

    Die unerhörte Beweglichkeit und Verwandlungsfähigkeit dieses Geistes führt dazu, daß man oft an seinem menschlichen Kern irre werden könnte. Alemannisches Wesen läßt ja freilich unzählige individuelle Abarten zu: der grüblerische melancholische Paul Haller ist so gut alemannisch wie der singlustige, frohmütige Meinrad Lienert und der elegisch weiche Josef Reinhart; auch ist keiner von ihnen ganz in einer Tonart befangen. Aber solche Sprünge aus der frommen Himmelsseligkeit in die wildeste Erdenlust, aus dem Sonntagsfrieden in die Katzenjammermisere bringt kein anderer fertig. Auch ebenso wenig den Sprung aus der schlichten Singweise des Volksliedes in die verstiegenen und für das Gemüt der Mundart schwindelhaften Höhen des Hymnus. Man vergleiche einmal die "Drei Mädchen im Heimgang" als Beispiel vollendeter Einfachheit des Liederstils:

Drei Maidli gönge Hand in Hand
Im Oberoth durs Haimethland.

Die ainti luegt der Sunne no,
Die anderi singt un lacht im Goh -

Die dritti luegt so bleich un blaß
Un ihri Auge glänze naß ...

Am Himmel chunnt der Obestern,
Die Schwarzi sait: I wüßt so gern,

Was d'Liebi isch, un wüsset d'Ihrs,
Se sind so guet un saget mirs!

Weisch nit, se lacht die Bruni früsch,
as d'Liebi 's Schönst im Lebe isch?

Die blaichi Blondi gschwaiget bood:
Was d'Liebi isch? I förch, my Dod!

Drei Maidli gönge ohni Rueh,
Dur Nacht un Nebel haimeszue.

[gönge = gehen; gschwaiget = bringt zum Schweigen; bood = beide; förch = fürchte; haimeszue = heimwärts]

    Oder von ähnlich volkstümlicher Art und gleich vortrefflich das "Scheibenschlagen", eines der schönsten Gedichte der ganzen Sammlung. (Ich kann nur für zwei Strophen von vier Raum finden):

Schyby Schyby Schybo!
Wem soll die Schybe goh?
So wyt me d'Füürer brenne duet,
So wyt glengt 's alimannisch Bluet.
Heluff! My ersti Schybe fahrt
Im liebe Volch un syner Art,
    Schyby Schybo!

Schyby Schyby Schybo!
Wem soll die zweiti goh?
Schön gäl un rot, wie d'Flamme sin,
Stöhn Farbe im e Fahnen inn:
Dem Badnerländli gäl un roth,
Dem simmer treu bis in der Dod!
    Schyby Schybo!

[Schyby Schibo = Lautmalerischer Ruf, mit dem der Scheibenschlagen-Spruch beginnt; Füürer = Feuer, hier: Scheitehaufen beim Scheibenschlagen; gäl = gelb]

    Und nun als Gegenstück ein Versuch, die Mundart in die schwungvollen Hymnusformen, die man aus Goethes Faust am besten kennt, zu spannen. (Ich muß mich auf die erste Strophe beschränken):

An die Sonne.

Glüenigi Sunne
Läufige Brunne!
Ewig lebändig
Röhrlisch du ständig
Läben un Liebi
Durab uf die trüebi
Ohni di schuudrigi
Schimmligi muudrigi
Iisig verfroreni
Einzächt verloreni
Drümmligi Aerde
Schwankigi Wält!

[glüenigi = glühende; röhrlisch = rieselst; durab = hinunter; ohni di = ohne dich; schuudrigi = schauerliche; muudrigi = kränkelnde; einzächt = einzeln; drümmligi = taumelnde]

    Ist es nicht gefährlich, wenn man alles kann? - Daß ein geistvoller Mundartdichter neue Ausdrucksformen schafft, daß er kaum gehörte Register zieht und so die Mundart, die seine Sprache reich gemacht hat, nun aus dem Eigenen bereichert, das ist gewiß sein Recht und darf sein Stolz sein. Allein über ihre Kraft hinaus und ihrem angestammten Wesen zuwider darf man sie nicht zwingen, sonst vergewaltigt man ihre Seele. Und das ist denn, um es gleich zu sagen, die Kehrseite und der Nachteil einer so grandiosen Begabung, wie Burtes "Madlee" fast auf jeder Seite bezeugt. Sein Herz schlägt warm und echt für dieses herbe, kernige Alemannentum, aber der Geist, in tausend Sätteln gerecht, schwingt sich keck und verwogen über die Natur des Volkes und seiner Poesie hinweg.
    Das schönste in Burtes Mundartdichtung findet man da, wo er zwar aus der Fülle eihenen Erlebens und Denkens schöpft, aber die Grenzen der mundartlichen Ausdrucksmöglichkeit nicht überschreitet. Und dort berührt er sich auch mit Hebel. Ich denke an das große Gedicht "Der Hafnermeister", unstreitig eines der vollendetsten in der deutschen Mundartdichtung überhaupt:

Nai, lueg mer doch dä Hafner aa,
Wie gschwind er d'Schiibe draihje cha
Mit bludde Füeß, das goht bigoscht,
Me meint nit, aß es Förtel choscht;
Er ginkt, er schüpft, er stieflet so,
Jetz hebt er, batsch! do blibt sie stoh.
Wo neume trocheni Aerde babbt
Am Iise, die würd abegschabt,
Jetz isch sie suufer, jetz gib acht,
Du Gscheitli, was der Maister macht!

[Hafner = Töpfer; draihje cha = drehen kann; bludde = nackten;bigoscht = bei Gott;  Förtel = Kniffe; ginkt = tritt mit dem Fuß; schüpft = stößt; stiefle = strampeln; hebt = hält fest; neume = irgendwo; suufer = sauber; babbt = klebt; Gscheitli = vorwitziger, neunmalkluger Kerl]

    Mit glücklichem Griff hat der Dichter als Ausgangspunkt für seine Weltbetrachtung eine Situation aus dem Handwerksleben gewählt: der Hafnermeister an seiner Drehscheibe und neben ihm, neugierig, wißbegierig, aber ahnungslos der kleine Fritz. Und nun, indem er dem Knaben die Handwerksgriffe erklärt und die unzähligen Möglichkeiten ausmalt, die frei in seiner Hand liegen, hebt er zu philosophieren an. Es ist eine Ästhetik im Volksmund, anschaulich, sinnig, tiefgründig:

E reini Form e gsundi Farb
Goht über alles Gmol un Gschlarb;
Chramanzlete und Ornament
Sin Sand in d'Auge dem, wos chennt.
Wenn ich si recht vo Härze pack
Die liebi Aerde un bifiehl
Mit mym Verstand der Hand der Wäg,
Kriegt von em selber d'Arbet Stil.
Was helfe Zünft Verein und Innig?
's het selten Ain e Maister-Gsinnig.

(...)

Di ganzi Welt mit ihrem Triibe,
Di gmahnt mi an e Hafnerschiibe;
Jo, wie die Tropfe uuse fahre
vom nasse Schmitz am Schiiberand,
So wirble d'Sterne über Land,
Es trittet Ain, wo mihr nit gwahre.
Un wemmes richtig überdenkt,
Wie wyt sy Laimverschaffes lengt
Eso wies Jede denke sott -
No gohts em uff, no gspürt er: Gott.

[Gmol = Gemale; Gschlarb = Geschmiere; Chramanzlete = läppische Zier; uuse = hinaus; Schmitz = ...; Laimverschaffes = Verarbeitung von Ton; lengt = reicht; sott = sollte]

    Ein anderes Gedicht, das ich auch zu den vollkommensten rechne - es mahnt an Hebels Ton, geht aber über seine Kraft hinaus -, ist nach dem Kehrreim betitelt, der sich durch alle dreizehn Strophen wiederholt:

    Es rauscht ein Wehr.

Die teerdi Stroos isch heert wie Stei,
Do dönt e jede Schritt,
I wandre muederseelenellai:
Der Widerhall goht mit.
Es schiint kai liebe milde Mo,
Kai treui Durmuhr schlacht,
Vo wytem aber ruuschts eso
verlore-n-in der Nacht.

Der Oberluft goht quellechüel
vom Wälder her an Rhyy.
Mi aber tribt en inner Gfüehl:
O 's Haimweh so dalii -
Derhäre schwankt e Baselfuehr,
Der Wage gahrt un schlacht -
Jetz blibt er stoh, un loos: e Wuehr,
Es bruuscht e Wuehr dur d'Nacht.

Das isch e Don, dä goht so liis
So lind un ring ins Ohr -
Dä chunnt Aim wienen aldi Wiis
Us Chinderdage vor -
O Haimethland, o Jugedzyt!
Was Alles Aim verwacht,
Wenn so dur d'Stilli stundewyt
E Wuehr bruuscht in der Nacht...

[Wuehr = Wehr, schlacht = schlägt; Staudamm; Oberluft = aus den Bergen herabkommender Wind; Wälder = Schwarzwald; dalii = talein; Baselfuehr = ...; loos = höre!; ring = leicht]

    Die ernste Stimmung der nächtlichen Stille vertieft sich von Strophe zu Strophe und führt zu einer wundervollen Natursymbolik: Das Wuhr, das durch die stille Nacht rauscht und das nur in der Nacht und in der Einsamkeit dem Menschen vernehmlich wird, es wird zum Sinnbild der Gottesstimme, die durch alles Weltgetöse hindurch redet, aber nur dem sich offenbart, der in der Stille der einsamen Natur zur Zwiesprache mit Gott sich auftut:

I zittre wie Aespelaub
Un gspür e ghaime Gwalt,
Wenn Alles was I hoff un glaub
E Legi abe fallt -
Wie doch der Mensch in syner Qual
Dem Wasser gliicht! Er schlacht
E Rüngli d'Augen uuf im Strahl -
Un mueß durab in d'Nacht.

Es goht e Luft, es fallt e Dau,
Es lockt e Nachtigall,
E Stärne schießt vom chalte Blau
Durab in Wasserfall,
Es luegt en Aug, e Hirni weiß,
E Härz im Buese schlacht:
Vor Gott isch Alls in Allem Ais...
Es bruuscht e Wuehr dur d Nacht.

[Legi = Querdamm; abe = hinunter; schlacht = schägt; Rüngli = Weilchen; durab = hinunter]

    Durch die ausgereifte Form solcher Gedichte hindurch wird man auch am sichersten den menschlichen Chrarakter dieses Proteus erkennen: dieses feurige Blut, das, stärker als der Wille, in unberechenbaren Wallungen und Zuckungen kreist, dieses unruhige Herz, das sich in eigener Glut verzehrt, dieses weiche, im Grunde kindliche Gemüt, dessen Wurzeln tief in das Volkstum der Heimat hinabreichen, und diesen rastlosen Geist, der in gefährlicher Überlegenheit mit Blut und Herz und Seele sein Spiel treibt:

My Seel isch e Duube,
My Geischt isch e Weih.

     Aber der Leser wird endlich Aufschluß haben wollen über den seltsamen Titel, den Namen Madlee, der diesen starken Band mundartlicher Lyrik (es sind rund 450 Seiten) zusammenhält. Schon die Widmung des Buches gibt uns diesen Aufschluß. Der erdgewachsene Wein dieser Alemannenpoesie, heißt es da, ist nichts für schwache Mägen, nichts für verderbte Zipperinchen.

Ainer, dief im Lätten unde,
Seller, denk I, wurd er munde,
Deere Schwarze, Stolze, Gsunde -
Madlee, chumm! - I bi kei Ruech -
Dauf mer Du my Haidebuech!
Nüt isch all! - Am Null isch Botte!
Aber Neue soll me trotte,
Ich has gwogt! Bis Du nem Gotte,
Nobli Doti, won I suech:
Heiße mueß no Dir my Buech:
            Madlee!

[Lätte = Lehm; seller = jener, ihr; wurder = wird er; deere = dieser; Ruech = roher, geiziger Mensch; nüt isch all = nichts ist immer; am Null = ...; Botte = Zielpunkt; Neue = neuer Wein; trotte = auspressen, keltern; bis = sei; Gotte = Taufpatin]

    Allein Madlee ist nicht nur die gestorbene Geliebte, die in seinen Träumen mit unwiderstehlichem Zauber immer wieder aufersteht:

Schönste Baum im Heimethgländ,
Beschti Zucht us eusem Landschlag!

[eusem = unserem]

    Sie ist mehr als diese Eine, sie ist die Verkörperung der ganzen Heimat, Erde, Feuer und Wind, des ganzen Volkes und seiner innersten Art, und darum ist die ganze Dichtung voll von ihr.

De bisch wie Alli sin un bisch wie Kais!
De hesch no Züg, wo Niemes an Der weiß
As Ich. Wenn d'Sterne glitzere in der Nacht,
Wenn d'Legene bruusche und en Amsle schlacht,
E Muusig zitteret vo Wytem har,
Derno verwachsch im Wese wunderbar: 
In Dyne Auge schwimmt e fiechte Schy
Es glänze d'Läf, wie ussem Grüe der Rhy,
Es gönge Wirbel in Der um, do schwimmt
Me halt druff zue un wenns aim abenimmt!

(...)

Mi mueterisch Du a! Die Ryme do
hanich as Gob us Dyne Hände gno,
Un ha my Lebe lebig dry verwobe
Sie solle Di, nit ihre Schryber lobe!
Du ballti Haimethärde, dunkli Brutt,
Du hesch mir Liebi geh und ich Dir Lutt:
Der Geist, wer weiß wohar, e stolzen Oode,
Bruucht, wil er mueß, e Seel voll Mueterbode.
Vergelt Der Gott Dy Geh, verzeih my Neh:
All Madlee Madlee all Mareimadlee!

[kais = keine; Züg = Sachen, Züge; niemes = niemand; as ich = als ich; Legene = Querdämme; fiechte = feuchter; Grüe = Grün; Läf = Lippen; gönge = gehen; Der = dir; abenimmt = herunterzieht; mueterisch a = wirkst wie eine Mutter; gno = genommen; ballti Heimethärde = geballte Heimaterde; Brutt = Braut; geh = gegeben; Lutt = Laut; Geh, Neh = Geben, Nehmen; all = immer; Mareimadlee = Maria Magdalena]

    Es fällt schwer, hier abzubrechen. Dieses Buch "Madlee" ist eine ganze Welt für sich, mit knappen Rezensentensätzen nicht zu erschöpfen. Es ist eine alte Welt, weil altes, untergehendes Volkstum darin lebt, und ist eine neue Welt, weil eine neue, nie gesehene Kunst darin erwacht. Es ist ein Buch voller Widersprüche, Kühnheiten und Gewagtheiten, strotzend von Geist und Leben, in der ganzen deutschen Mundartdichtung einzigartig.

1 Urheberrechlicher Hinweis von 1923: Abdruck aus dem Inhalt dieser Zeitschrift ist nur unter Quellenangabe gestattet. 

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Auflagen und Bezugsmöglichkeiten von Hermann Burtes Madlee:

Madlee erschien erstmals 1923 und wurde 1933, 1951 und 1993 neu aufgelegt, bis 1951 in Fraktur. Die Auflage 1993 ist mit einem Vorwort des schweizerischen Professors für deutsche Sprache und Literatur, Georg Thürer, versehen und hat den ausführlichsten Worterklärungsanhang.

Sie können Madlee über die Hermann-Burte-Gesellschaft, über Ihr Antiquariat oder über

www.findmybook.de - www.antiquario.de - www.amazon.de beziehen.

 

www.hermann-burte.de