"Eigentlich froh geworden bin ich dieses Krieges noch nie."

Vor 100 Jahren: Ausbruch des Ersten Weltkriegs
Ein bemerkenswerter Brief von Hermann Burte an Walther Rathenau

von Harald Noth

   Der Brief von Hermann Burte vom 3. Januar 1915 an Walther Rathenau bietet bemerkenswerte Einblicke in das politische Denken des deutschen und alemannischen Dichters. Der Blick der Öffentlichkeit auf Burte hat sich in den Jahrzehnten nach seinem Tod 1960 stark verengt; man nimmt vornehmlich seinen 1911 entstandenen und 1912 erschienenen Roman Wiltfeber wahr und dann wieder seine Verstrickung im Nationalsozialismus. Dieser Roman wird heute in den Medien häufig als Verherrlichung des Krieges, des Führertums und als rassistisch und antisemitisch ausgegeben. Doch der Roman gibt dies so nicht her, wenn auch Irrungen in dieser Richtung nicht abzustreiten sind. Burte selbst scheint dies durchaus gesehen zu haben, er schreibt 1927 im Vorwort zu einer Neuauflage des Wiltfeber und am 16. Dezember 1928 in der Zeitschrift "Der Markgräfler" gleichlautend:

"Wenn ich heute, nach 15 Jahren, den ‚Wiltfeber’ wieder lese, erkenne ich erschüttert, wie der Mensch, und wäre er noch so guten Willens, in den Meinungen und Irrungen seiner Zeit verstrickt und befangen ist. Aber ich fühle auch, wie das Zeitliche versinkt und das Dichterische hervortritt. Keine Partei hat das Recht, das Ewige meines Buches für ihren Tag auszumünzen: aus dem Vollen will es gesehen sein und als ein Ganzes für jedermann."

   Die Ausmünzung des Buchs für den Tag geschah dann nach 1933 durch die Nationalsozialisten, ohne dass Burte sich davon distanzierte. Die Anpassung Burtes an das neue Regime geschah zunächst nicht freiwillig, dies wird an anderem Ort gezeigt. Heute wird sein Mitmachen oft so interpretiert, als habe er das, was zwischen 1933 und 1945 geschah, gewollt und seit 1912 herbeigeschrieben. Doch diese Sicht verbietet sich nach einem unvoreingenommenen Lesen des Wiltfeber. Das politische Denken Hermann Burtes dürfte sich zwischen 1912 und 1915 nicht grundlegend geändert haben. In diese drei Jahre zwischen dem Erscheinen des Wiltfeber und seinem hier besprochenen Brief an Rathenau fällt die Entstehung bedeutender Werke des Markgräfler Dichters: nämlich die meisten seiner alemannischen Gedichte, die 1923 im Band "Madlee" erschienen, das Schauspiel "Herzog Utz", das Drama "Katte", das Bühnenstück "Der letzte Zeuge" und sein Drama "Warbeck", das erst 1935 im Druck erschien. Diese Nach-Wiltfeber-Werke sind weitgehend frei vom plakativen völkischen Vokabular des Wiltfeber. Liest man Burtes Brief vom 3. Januar 1915, so überrascht das nicht; auch die Interpretation des Romans, die nach 1960 dominierend wurde, erscheint danach höchst fraglich.

   Walther Rathenau war Ingenieur, Bankier, Industrieller, Politiker und Schriftsteller - als AEG-Präsident einer der mächtigsten Männer Deutschlands. Rathenau wurde 1912 auf Burtes Wiltfeber aufmerksam. Er nahm Brief- und bald auch persönlichen Kontakt mit dem 33-jährigen Dichter auf. In seinem Brief vom 22. März 1912 nannte er den soeben erschienenen Roman ein "starkes und stolzes Buch" (1).  In einer freundschaftlichen Buchwidmung für Burte nennt der jüdischstämmige Rathenau sich selbst den "Ewigen Juden", Burte nennt er in Anspielung auf den Untertitel des Wiltfeber "Ewigen Deutschen". Daraus entwickelte sich eine Freundschaft zwischen den beiden, die bis zum Ende des Ersten Weltkrieges gepflegt wurde.
   Der Brief Burtes vom 3. Januar 1915 an Rathenau wird im Folgenden kommentiert wiedergegeben; einen unkommentierten Abdruck siehe hier. Die zugrunde liegende Briefkopie hat dankenswerterweise das Archiv der Walther-Rathenau-Gesellschaft zur Verfügung gestellt; die Übertragung der Handschrift in Maschinenschrift verdanke ich Georg Diehl.

Abbildung: Walther Rathenau nach einer Zeichnung von Hermann Burte. Hermann-Burte-Archiv Maulburg

Einstellung zum Krieg

   Der Brief Burtes vom 3. Januar 1915 ist angeregt durch den Brief Rathenaus vom 14. Dezember 1914. Das Oberthema ist der Krieg. Rathenau hatte in den vergangenen Monaten als Leiter der Kriegsrohstoffabteilung im Preußischen Kriegsministerium die deutsche Kriegswirtschaft organisiert, er schreibt dazu an Burte: "Mein Materialfeldzug ist so ziemlich beendet. Wir können schießen so lange es sein muß."
   Burte beginnt mit der Bemerkung: "Lieber Freund, Ihr schöner Brief berührt Dinge und bringt Gedanken, die mir ganz ähnlich schon oft durch den Kopf gegangen sind ..."
   Dann bemerkt er: "Eigentlich froh geworden bin ich dieses Krieges noch nie." Damit macht er eine ähnliche Aussage wie Rathenau, der begonnen hatte: "Lieber Freund, noch keine glückliche Stunde habe ich in diesem Krieg gehabt." Doch die weiteren Ausführungen der beiden zeigen zum Teil unterschiedliche Kritiken. Burte macht deutlich, dass ihm der Hurrapatriotismus der Deutschen zuwider ist, wenn er fortfährt:

... auch bin ich nie in die zeit- und landesübliche Kritiklosigkeit verfallen, auf welche die Deutschen jetzt auf einmal so stolz sind. Was mich erstaunt und erzürnt an diesem Kriege, ist der geringe seelische Widerhall, und die furchtbare selbstverständliche Verlogenheit, die er mit sich gebracht hat. Wer zu bedauern wagt, daß wir 8 schöne Schiffe verloren haben, wird als "Miesmacher" angeheult und ihm bedeutet, daß England seine Schiffe nicht bemannen könne. Wohlgemerkt, dieser Patriotismus findet sich nicht nur bei den Insassen bürgerlicher Wirtshäuser, sondern auch bis in die Casinos hinein. Ich rede selber grundsätzlich nicht mehr vom Kriege, ich lese die Zeitungen aller Mächte (in Basel) und finde dann ungefähr die Wahrheit ermittelnd heraus. Der böse Princip(e) wird verdammt, aber "Tell" bleibt ein Nationalheld: ach, Dialektik ist am Ende doch immer vor der Welt das Entscheidende; hoffen wir, daß Gott anders werte.

   Mit Principe könnte der Kaiser gemeint sein. Die "Verlogenheit" der Deutschen stellt Burte dann auch anhand ihrer Stellung zum Partisanenkrieg in Belgien dar:

Wir jammern über Belgiens Franctireurs-Krieg, vergessen aber - ach, was ist heutzutage ein schlechtes Gedächtnis für eine solide Grundlage zu einem guten Gewissen! - daß der treffliche (er ist wirklich trefflich und schreibt ausser Luther das beste Deutsch!) Ernst Moritz Arndt die rücksichtslosesten Anleitungen und Aufforderungen zum Kleinkrieg gegeben hat. Von den Reden unserer Professoren will ich noch lieber gar nicht reden: jeder Kriegervereinsvorstand hält ja die gleichen.

   Nach diesen Ausführungen Burtes ist zu ermessen, wie er es meint, wenn er sagt, er sei eigentlich des Krieges noch nie froh geworden. Man könnte es als eine grundsätzliche Haltung verstehen. Weiter unten bezeichnet Burte die Verletzung der Neutralität Belgiens durch Deutschland als "schlimm". Damit zeigen sich in den Briefen Rathenaus und Burtes deutlich anders gelagerte Standpunkte. Während Burte für Betroffene des Krieges Partei ergreift (die Belgier), sorgt sich Rathenau um einen Kräfteüberschuss, er hatte geschrieben: "Ich glaube an den Sieg, weil ich sonst nicht leben könnte. Aber ein Sieg genügt nicht; wir brauchen die debellatio, den Kräfteüberschuß des Siegers, die 100 Pferdelängen, den diktierten Frieden, nicht den erhandelten. Nur dann sind die Opfer und Tränen gerecht."
   Eine humanistische Einstellung zum Krieg wird auch in Burtes Drama "Warbeck" deutlich. Es war 1915 schon fast fertig, Burte wollte es (Brief vom 29. März 1915) Rathenau widmen. Das Drama wurde am 25. September 1920 in Karlsruhe uraufgeführt und erschien erst 1936 im Druck. Warbeck, der Held des Stückes, ist ein Königssohn, er wird im Kampf um sein Recht zum Pazifist und geht unter. Der Krieg wird aus der Perspektive der betroffenen Bevölkerung kritisiert. Ähnlich wie 1914/15 scheint Burtes Einstellung zum Krieg auch 1936 noch gewesen zu sein, als er das Drama herausbrachte.
   1947 gab Burte in einer Verteidigungsschrift an, er habe sich (noch 1938) gegen den Krieg ausgesprochen: "Am Parteitag in Nürnberg, wo wir Dichter und Künstler nur Zuschauer und Hörer waren, fiel ich bei fanatischen Mitgliedern der Partei unangenehm auf, weil ich sagte: 'Macht, was Ihr wollt, nur um Gottes Willen keinen Krieg!'" (2) 1946 schrieb Burte, wie er den Ausbruch des Ersten Weltkriegs erlebte: "Ich gehe pfeifend die Treppe hinab und lese ein Sonderblatt, dass der Thronfolger Ferdinand in Sarajewo ermordet wurde. 'Das ist der Krieg!' sage ich und sehe, wie im Frühtraum, so schnell das Kommende. Ich weine und bin auf den Tod unglücklich. Wenn der Rahmen brennt hält auch das Bild nicht." (3)
   Burte ist also kein Freund des Krieges. Doch wenn der nicht gewünschte Krieg einmal begonnen hat, meint der patriotische Dichter, zu seinem Vaterland stehen zu müssen. Das wird auch in seinem Brief an Rathenau deutlich.

Ich selber, verdammen Sie mich nicht, gehe des letzten Zieles willen bedingungslos mit: das Schlimmste, die Verletzung der Neutralität Belgiens, erkläre ich mir und andern so: das Deutsche Reich war bei Kriegsausbruch wie ein Saal, um den herum eine Feuersbrunst wütet. Es giebt aus dem Saal nur einen Ausweg ins Freie, durch die Thür mit der Aufschrift: Verbotener Durchgang! Wer wird sich auch nur einen Augenblick besinnen, diese Thüre zu zertrümmern und durchzubrechen? Nicht wahr? - Ist es Ihre Aufgabe, Rohstoffe zu beschaffen, so ist es meine, Mut und  Willen der Leute in Spannung zu erhalten durch Reden und Gedichte. Es gelingt mir gut.

   Diese bedingungslose Treue zu einem Vaterland, das einen von ihm als ungerecht oder zumindest als kritikwürdig angesehenen Krieg führt, wird Hermann Burte auch im Zweiten Weltkrieg zeigen, sie wird ihm zum Verhängnis werden - nach 1945 wird sie mit zu seiner Ächtung vor allem durch Menschen aus den nachgeborenen Generationen führen. Wie er im Ersten Weltkrieg Reden hält und Gedichte schreibt, die die Kampfmoral aufrecht erhalten sollen, wird er auch im Zweiten in Reden, Gedichten und in Weihnachtsbotschaften (an die Lörracher im Felde) den Durchhaltewillen zu stärken versuchen. Burte meint nicht, dass so etwas Kunst sei. Er schreibt an Rathenau:

Da diese Sachen alle einen Zweck haben, so kommen sie als Kunstwerke natürlich nicht in Betracht. Also bitte ich um schonende Behandlung! Drucken lasse ich die Deklamationen nicht, aber ein Maschinenschriftabzug wird Ihnen einmal zugehen.

   Von dieser klugen Einsicht kam Burte 1943 ab, als er seine politischen Reden drucken ließ. Freilich erhob er auch dann nicht den Anspruch, das sei Kunst. Was er für Kunst hielt, sammelte er in seinen Gedichtsbänden, so etwa im Band "Anker am Rhein" (1938).
   Burte bekannte gegenüber Rathenau zwar, dass er den Krieg "um des letzten Zieles Willen" unterstützt, doch die Zweifel lassen ihn nicht los. Seinem Freund, der einen haushohen Sieg will und volkspsychologische Aspekte des Krieges anspricht, antwortet Burte:

Ganz im Stillen, in den letzten Geheimfächern des Denkens, überlege ich mir, was für die Deutsche Seele das Heilsamere wäre: ein Siegesrausch oder ein Siegeskater? und lasse die Antwort offen. Ja, verdienen wir auch diesen Sieg (mit ungeheuerem Kraftüberschuß)?

Burte zweifelt also an, dass die Deutschen einen überwältigenden Sieg verdienen und kann sich vorstellen, dass ihnen ein Kater nach dem Sieg gut täte.
   Könnte Burte aus dem Jahr 1914 oder 15 ins dritte Jahrtausend springen und dabei seine Grundeinstellung zum Krieg mitnehmen oder wäre er 1945 geboren und hätte eine ähnliche Grundeinstellung wie 1914 entwickelt, würde er in den Kreisen der heute etablierten Parteien nicht auffallen. Gerade den Grünen und den Sozialdemokraten würde er diesbezüglich sehr nahe stehen. Im Prinzip zwar gegen den Krieg, macht man doch mit, wenn die Staatsraison es zu verlangen scheint. So geschehen 1999 bei der Bombardierung Jugoslawiens (Kosovo-Krieg) und nach dem 11. September 2001 beim Krieg gegen Afghanistan. Nach einer Umfrage für "Die Zeit" im August 2007 halten nur 34% der Bevölkerung Deutschlands den Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan für "eher richtig", bei den Anhängern der SPD sind es 33%, bei den Anhängern der CDU 42% - ein Ergebnis, das unter der Anhängern der Grünen noch übertroffen wird: von ihnen halten 47% die Afghanistan-Mission eher für richtig.
   Doch die Beurteilung Burtes darf nicht danach gehen, ob seine Einstellungen dem Zeitgeist von heute entsprechen. Er muss, wie jede historische Person, aus seiner Zeit heraus beurteilt werden. Dazu muss man die damalige Zeit sehr gut kennen. Es war 1914/15 ungleich schwerer, Gegner oder Kritiker des Kriegs zu sein als heute. Schwerer auch, als es heute ist, sich gegen die heutigen Kriegsbeteiligungen Deutschlands auszusprechen. 1939 bis 1945 war es fast unmöglich, sich gegen den Krieg auszusprechen oder auch nur Kritik zu üben.

Über Selbstbewusstsein und Duckmäusertum

   Mit seinen weiteren Bemerkungen greift Burte die Klage Rathenaus auf, dass das Volk nicht von seinen ausgelesenen Fähigsten, sondern von seinen angestammten Mittelmäßigen beherrscht werde. Burte setzt zu einer Studie an, mit der er in heutigen linksliberalen Kreisen wiederum wenig auffallen würde:

Daß unseren Leuten wirkliches Selbstbewusstsein fehlt, wer weiß das besser als ich? Daß jeder Aufsteigende von seinen früheren Genossen am gemeinsten befehdet wird, weiß ich auch. Aber mir scheint, das ist ein allgemeines menschliches Gebrechen. Neun Zehntel aller Menschen haben keine Lust an der Verantwortung: Sie wollen befehligt werden und wollen geführt sein: Sie schimpfen dann, maulen, reden Unsinn zusammen und zahlen doch, haben Mut im Hintergrunde, aber sobald es gilt, klappen sie zusammen, nicht nur vor Erbherrn, sondern auch vor Bürgermeistern, Aufsichtsräten und Mehrheiten.

Über die Sozialdemokratie und ihre Anhängerschaft

   Burte lässt an der seinerzeitigen Sozialdemokratie zunächst nicht viel Gutes:

Den besten Beweis für das Bedürfnis der Menschen, der Verantwortung enthoben zu sein, sie andern zuschieben zu wollen, haben Sie in der Sozialdemokratie. Auf die schöne Pose der Fraktion fällt herein, wer will: thatsächlich haben sich die Hirten der Herde angeschlossen, die menschlichen Leidenschaften - Haß, Rauflust, Eitelkeit - sind noch nicht parteipolitisch oder gewerkschaftlich organisiert. Grattez le Sozze et vous trouverez le barbare. (= Kratzt am Sozi und der Barbar kommt zum Vorschein)

   Doch der nächste Satz zeigt, dass Burte "überzeugungstreuen" Sozialdemokraten Respekt entgegenbringt:

Der einzige überzeugungstreue Sozialdemokrat ist Liebknecht, alle andern, Frank am meisten, haben sich ihre Vergangenheit aufs Maul geschlagen.

Der SPD-Abgeordnete Karl Liebknecht war am 4. August 1914 der Abstimmung über die Kriegskredite ferngeblieben - alle anderen hatten zugestimmt. Mit diesen Krediten wurde dem Kaiserreich die totale Mobilmachung ermöglicht. Am 2. Dezember 1914, vier Wochen vor Burtes Brief, hatte Liebknecht als einziger Sozialdemokrat nunmehr offen gegen die Verlängerung der Kredite gestimmt. Die Unterstützung des Kriegs durch die Sozialdemokratie wurde in der späteren kommunistischen Bewegung als der Beginn des "Verrats der Sozialdemokratie" angesehen; Karl Liebknecht gehörte später zu den Gründern der KPD.

   Wenn auch Hermann Burte von den politischen Konzepten der Sozialdemokratie nicht viel hält, hat er doch in zahlreichen Werken gezeigt, dass sein Herz für das einfache Volk schlägt. Sein Roman Wiltfeber beginnt mit einer Szene, in der ein Steinhauer in seiner Not bis um Mitternacht schuftet; die weitere Handlung des Romans zeigt, dass Burte nicht vom hohen Ross herab die arbeitende Bevölkerung sieht, sondern so kenntnisreich und mitfühlend, als wäre er einer von ihnen. Ja, er ist einer von ihnen, stammt er doch aus einem einfachen Haus in Maulburg. In seinen alemannischen Gedichten im Band Madlee ist die Lage der Fabrikarbeiter verschiedentlich ungeschminkt geschildert. Im Gedicht "Der Hotzenblitz" aus dem Jahr 1910 rät ein Vater, dessen Elternhaus zwangsversteigert wird, seinen Kindern:

Zeig, hület nit, morn göhntder in d'Fabrik,
Un werdet Sozze, lehret Poch un Trutz;
Prolete sindder, machet ychs denn z'Nutz,
Un hauet dene Heerlene ins Gnick ...

Der Vater rät also seinen Kindern, in die Fabrik zu gehen, Sozialisten zu werden und den Herren ins Genick zu schlagen ... Er übt eine grundsätzliche Kritik am Staat:

Ais, Chinder, goht mer über der Verstand:
Wer meint me, wemme redt vom Vatterland?
Mys Vaters Land, das nimmt er mir jo grad
Im Schacher und im Wuecher hilft der Staat;
Eus Champf und Arbet, selle der Profit ...
Er stiehlt my Sach für ihns, no simmer quitt!

   Im Gedichtband "Anker am Rhein", der 1938 herauskam, findet sich das Gedicht "Befehl zu singen", das am 31. Juli 1931 erstmals im "Markgräfler" erschien und 1989 in eine Schwarze Liste mit Burte-Zitaten aufgenommen wurde, mit denen bewiesen werden sollte, dass eine öffentliche Unterstützung der Hermann-Burte-Gesellschaft abwegig sei. (4) "Befehl zu singen" könnte - wenn nur wenige Worte geändert würden - in ein kommunistisches Sammelwerk aufgenommen werden. Die beiden Seiten im Verhältnis Führer und Volk (bzw. in der kommunistischen Variante: Partei und Massen) sind idealistisch dargestellt; über das Volk/die Massen, "die vielen Vergessenen" singt Burte u.a.: 

Der Knecht in Nacht und Nebel,
Der vor dem Tage molk,
Der Mann am Weichenhebel
Im Schienenwirrwarr: Volk!
Die Heizer, die in Nächten
Versehn das Feuertier,
Die Graber in den Schächten
- Helden? - Das seid Ihr!

Einsam im Hammerschwunge
Am harten Straßenbord
Gibt einer seine Lunge
Und keiner meldet Mord;
Der Weber vor dem Stuhle,
Der Führer hoch im Flug,
Der Mann am Jauchepfuhle,
Der Bremser nachts im Zug -

Ich soll sie alle melden
Im redlichen Gedicht,
Die unbekannten Helden,
Geboren zum Verzicht,
Sie geben sich als Opfer
Genußlos, arm dahin -
Sie sind die Lückenstopfer,
Durch sie sind wir gediehn!

Der kleine Mann und der Krieg

 So sehr Burte der Antikriegshaltung Liebknechts Respekt entgegen bringt, so deutlich sieht er die menschliche Schwäche von Fabrikarbeitern angesichts der Verlockung des Krieges: 

Ein Vetter von mir, Fabrikarbeiter in einer Papierfabrik, hochbegabter Mensch in unbefriedigender Stellung, also Sozialdemokrat, fähig, also Führer in seinem Dorfe, kam bei der Einkleidung zu mir, um Abschied zu nehmen, und sagte mir: Hermann, jetzt bring ich einen Russen am Nasenring! entgegnete ich: Werden die Nasenringe vom Gewerkschaftskartell gestellt, lachte er: Dummes Zeug! Nit rot nit schwarz nit gscheckt *) nit blau, jez simmer alli nobel grau! - (*Gscheckt = scheckig bedeutet die (National)-Liberalen!) -
Für einen Fabrikarbeiter, wie er es ist, bedeutet der Krieg die Entdeckung einer neuen Welt, ja der Welt! Er hat Zeit (
Dehmels einziges wurzelhaftes Gedicht ist jenes "Nur Zeit") er hat frei, seine persönlichen Anlagen werden geschätzt, er wird als Gefreiter Unteroffizier, Vorgesetzter, ist (nach Bismarck!) auf seine Tressen erpicht, bekommt das Eiserne Kreuz (für Soldaten ist es eine Auszeichnung, für Offiziere ein Erinnerungszeichen; es haben es z. B. Offiziere, die nie im Felde waren, sondern das Telefon des Stabes in einem Freiburger Luxushotel bedienten), der Großherzog giebt ihm die Hand, die Gemeinde beglückwünscht ihn und sendet eine Spende - herdi, was kann ihm Schöneres geschehen? - fahr ab, oller Mehrwert ...

   Burte moniert, dass sein Vetter wichtige Anliegen und Probleme der damaligen Sozialdemokratie nicht verstanden hat, wenn er schreibt:

... fahr ab, oller Mehrwert, ehernes Lohngesetz, Unterernährung, mangelnde Kompensation, Marx rechtgläubig oder Marx reformiert (Franz Oppenheimer), das versteht der Mann nicht, es wirkt nicht in ihm, das sind ihm belanglose Fremdwörter. Selten will er auch ein rechter Kerl sein, Ehre haben, ein Männle sein, wie man sagt, dazu hilft ihm der Krieg.

   Nun versucht Burte den von Rathenau beanstandeten Untertanengeist abschließend zu erklären:

In der menschlichen, unveränderlichen Natur liegt die Erklärung für das von Ihnen Beklagte, nicht in unsern Einrichtungen, wobei ich freilich wieder zugeben muß, daß beide sich bedingen. Was man auch sage: Im deutschen Volke sind herrliche Kräfte verlocht, die Unterschicht ist qualitativ unvergleichlich, der englischen überlegen, nur die schweizerische, glaube ich, ist besser geschult.

Kaiser, Kanzler, Reichstag, Volk

   Im folgenden Teil des Briefes beschäftigt sich Burte damit, wer die Verantwortung für den Krieg hat:

Will man Ihre andere Feststellung über die Fehler, Launen und Ungröße des Erbherrn werten, so muß man sich die einfache Frage vorlegen: Wer hätte es besser gemacht? Eines steht fest: die wirkliche letzte Verantwortung liegt nur beim Kaiser. Niemand, kein Reichstag, kein Bundesrat, vor allem kein Kanzler à la Bülow oder Bethmann wird sie ihm vor der Geschichte und vor der Mitwelt abnehmen.

   Die Aufrüstung und der Krieg seien gegen die Mehrheit des Volkes durchgesetzt; der Kaiser zeige Führungsschwäche. Im November/Dezember 1913 war es zu einem Konflikt zwischen dem preußischen Militär und der Bevölkerung im elsässischen Zabern und zu Protesten im ganzen Reich gekommen.

Was wir an kriegerischen Einrichtungen haben, ist dem Volke - seinem Reichstage! - nur mit Mühe und mit Concessionen abgerungen worden. Die Mehrheit der deutschen Wähler, Linke aufs erste Linke und Polen und Elsäßer, waren seit Jahrzehnten nicht für eine Vermehrung, Verbesserung und Vorbereitung der Kriegsmittel zu haben. Der Kaiser, menschlich begreiflich, scheut die ständigen Konflikte: nachdem man ihm im November-Rummel den konstitutionellen Knax beigebracht hat, die Unsicherheit gegen seine Kanzler! - und der Zabern-Rummel gegen sein Heer ging, - (Gedächtnis, Gedächtnis!) - ist sein Fall tragisch: Er müßte entweder mit allen Mitteln durchsetzen, was er braucht, um die Verantwortung tragen zu können, oder er müßte sagen: übernehmt Ihr die Verantwortung!

   Burte vermisst nicht nur beim Kaiser die Entschlusskraft, um einen Krieg verantwortlich führen zu können, sondern er hält auch die im Reichstag tonangebenden Parteiführer nicht für moralisch kompetent:

Unser Reichstag die Verantwortung für einen solchen Krieg! Ich muß lachen oder heulen, wenn ich daran denke. Parteiführer, die in der Uniform des Offiziers ganz ordinäre Schiebergeschäfte machen (Sunlight, Jasmatzi). Nein!  - So liegt die Sache: Siegen wir, so wird es heissen: Das Volk hat gesiegt, unterliegen wir, wird es heulen: Der Kaiser ist schuld. - 

   Burte war im Prinzip ein Anhänger Bismarcks und der konstitutionellen Monarchie - einer Staatsform, in der es eine Machtteilung zwischen Kaiser und Parlament (= Reichstag) gab. Der Kaiser war Oberbefehlshaber der Armee und ernannte den Reichskanzler und hatte somit ein Übergewicht. Der Reichstag hatte im Kaiserreich eine größere Macht als heute das Europäische Parlament in der Europäischen Union, er hatte neben dem Recht der Etatbewilligung auch das Recht zu Gesetzesinitiativen und zu Gesetzesbeschlüssen. Kaiser Wilhelm II. hatte Bismarck 1890 entlassen und einen Politikwechsel hin zum Irrationalen eingeleitet. Die prinzipielle Anhängerschaft Burtes an die konstitutionelle Monarchie schloss konkrete Kritik am Kaiser und den Kanzlern nicht aus.
   In seiner Rede am 4. August 1914 im Reichstag hatte Kaiser Wilhelm gesagt: ”Ich kenne keine Parteien mehr, kenne nur noch Deutsche.” Nach Burte war diese Äußerung dem Kaiser vom Kanzler Bethmann eingegeben. Damit brachte Wilhelm II. den Wunsch nach Harmonie zum Ausdruck. Dass diese Harmonie Wirklichkeit geworden war, zeigte sich, als die Sozialdemokraten die Kriegskredite bewilligten. Aber schon vor der Kaiserrede hatte die SPD-Führung signalisiert, dass es bei einem Kriegseintritt des Deutschen Reichs keine Sabotage und Generalstreiks geben würde. Mehr als diese Instrumentalisierung des Kaisers moniert Burte, dass Kanzler Bülow 1907 den Kaiser dazu gebracht habe, in die Tiefen der Wahlpolitik hinabzusteigen. Nach Burtes Meinung könne es dem Kaiser egal sein, wer seine Geschäfte macht: Liberale könnten das so gut wie Konservative. Im Brief an Rathenau lautet die entsprechende Stelle:

Daß Bethmann diese Rede von: Keine Parteien mehr, nur noch Deutsche! halten ließ, ist lange nicht so schlimm, wie Bülows Unsinn, der nach den Blockwahlen 1907 den Kaiser zu den Straßenpassanten über den Wahlausfall sprechen ließ: als wenn ein Wahlausfall den Kaiser etwas anginge, als wenn der Kaiser die Geschäfte nicht ebenso gut von einem liberalen wie von einem  konservativen Ministerium besorgen lassen könnte!! "Könnte" gewiß, er that es noch nicht, wohl aus dem einfachen Grunde, daß ein Monarch nicht gute Leute in das Amt setzen kann, die ihn aus dem seinigen setzen - zu wollen behaupten! "Freiheit für Jeden, der die meine achtet!"  (einen andern Standpunkt kann m. E. ein wirklicher Monarch nicht einnehmen.) Alle diese scheinbar harten Fragen werden praktisch im Leben viel leichter sich lösen als in der kalten mathematischen Theorie.

Burtes gewünschter persönlicher "Kriegsgewinn"

   Walther Rathenau spricht in seinem Brief von einer "behördlichen Kinderstube" und meint damit den Mangel an Selbstbewusstsein und Initiative im Volk und bürokratische Einschränkungen, gewiss auch Privilegien des Adels und anderer; er will "Selbstbestimmung, selbstverdientes Glück und Freiheit". Seine nicht ganz Ernst gemeinte Drohung, nach dem Krieg in die Schweiz zu ziehen, beantwortet Burte mit einem Gedankenspiel. Schloss Freienwalde war die Residenz Rathenaus in der Mark Brandenburg, in der Burte schon zu Gast gewesen war.

Würde nach dem Siege, er sei klein oder groß, so schreiben Sie, die behördliche Kinderstube wieder geheizt, so würden Sie Ihr Leben an einem blauen Teich in der Schweiz beschließen. Der Gedanke, Sie könnten einmal hier im Süden wohnen und wirken, eine Art Freienwalde in der Schweiz besitzen, und der gleiche noble Wirt sein wie in der Mark, dieser schöne Gedanke hat für mich etwas so bestechendes und verlockendes, dass ich gerne nach einem Holzhieb in meinem kleinen Wäldlein in den "Stechpalmen", so heißt der Schlag, zur Heizung der Kinderstube beisteuern würde. Rathenau am X-See, Spitteler am Luzerner See, Madelung (?) am Zürisee, Mauthner am Bodensee, ich vielleicht am Titisee, ha, das wäre ein so übler Kriegsgewinn nicht. Für mich. Das ist ja, was mir fehlt, ein reifer, klarer Kopf, ein Mann, eine Art Trainer, der erkennt, wo es dem Gaul fehlt, wo er zu gebrauchen ist, was er geben kann.

   Carl Spitteler war Dichter und Schriftsteller, Fritz Mauthner Philosoph und Schriftsteller, mit Madelung ist wahrscheinlich der dänische Dichter Aare Madelung gemeint; das Fragezeichen ist von Burte.

Ablehnung von Englandhass und politischer Fäulnis; Blick auf Europa

   Erneut treibt es Burte zu Bemerkungen, die nicht mit dem ihm heute angehängten Bild des Hurrapatrioten vereinbar sind. Burte hatte Shakespeare bei seinem England-Aufenthalt 1904 im Original gelesen und lieben gelernt; anscheinend dachte man in Deutschland darüber nach, ob Stücke von Shakespeare, einem Dichter des englischen Feinds, noch gespielt werden sollten.

Es muß auch nach der Kriege einige europäisch übersichtente Geister geben, denen eine Umfrage "Soll man Shakespeare spielen?" eine Pose und ein "Haßgesang" eine Scham ist. Hassen Sie denn oder ich England? Auch im herrlichsten Sieg muß es ein paar Köpfe geben, die nicht mittaumeln, sondern darauf dringen, daß Fehler gutgemacht, Griffe geändert, Ungerechtigkeiten beseitigt werden: sonst faulen wir in Deutschland noch mehr in uns zusammen als vorher und werden ein europäisches China, mit beknopften Mandarinen, wo Einer unangenehm auffällt, wenn er menschlich frei und ungezwungen leben kann ohne Tresse, Glunker und Trabanten.

Die Wertschätzung Rathenaus durch Burte

   Hermann Burte sagt Rathenau eine große Zukunft voraus. Zu anderen Gelegenheiten - bei einem Gespräch auf einer Wanderung zum Schloss Bürgeln und im Brief vom 13. Juli 1913 - hatte Burte schon die Meinung geäußert, Rathenau sei zum Reichskanzler befähigt und von ihm erwünscht. Das Gespräch beim Schloss Bürgeln ist in Burtes 1925 erstmals erschienenen Erinnerungswerk "Mit Rathenau am Oberrhein" beschrieben. Rathenau wurde Anfang 1922 tatsächlich Außenminister, doch die politischen Wege Burtes und Rathenaus hatten sich nach dem Ende des Krieges getrennt und ihr Briefwechsel war eingeschlafen.
Die Anspielung "Kraftwerk" hat auch einen biografischen Hintergrund - Rathenau und Burte waren sich schon am Kraftwerksbau in Laufenburg (Hochrhein) begegnet, wo die Kraft gestauten Wassers in Strom umgewandelt wurde.

Sie, lieber Freund, sind ein Mann, der als Schriftsteller leisten kann was Montaigne; nur haben Sie den ungeheueren Vorteil, dass Sie nicht wie er von den Zitaten und Anekdoten der Vergangenheit her ihre Zeit beurteilen, sondern aus der geahnten, seelisch vorausempfundenen Zukunft heraus. Deshalb haben Sie die Pflicht, uns ihre Bücherreihe zu schaffen, wie ich die Pflicht habe, meine Erde und Menschung in Seele zu wandeln mittels der Worte. Aber ich verhehle mir nicht, dass bei Ihnen, etwa wie bei Dostojewski und Gotthelf, (die ganz auf einem andern Acker wuchsen, andere Seinsformen entfalteten) das Schreiben nichts anderes ist als ein gewandelter Thatendrang. Die Stauung des Blutes erzeugt das Licht der Seele. (Kraftwerk!). Und so weiß ich, fühle ich, dass Sie nicht so schnell, vielleicht in 20 Jahren erst, nach dem Süden kommen, wenn Sie Ihr Werk im Vaterlande gethan haben werden. Ihr Pessimismus im Briefe ist das Bangen vor der nahe fallenden Entscheidung, Ihr Tag und Ihr Triumph ist näher, als Sie ahnen. Es ist nicht möglich, daß ein Mann von Ihren Fähigkeiten lange verborgen bleibe; Sie sind auch bei denen, die Sie als Gegner empfinden, ausserordentlich geachtet, vielleicht ein bischen gefürchtet: der Hecht ist bei den Karpfen selten beliebt. Wenn Sie aber einmal zu Wort kommen, so kommen Sie zu Wort und werden unbezwingbar sein, solange Sie sachlich sind. Wer aber ist sachlich, wenn nicht der Dichter der Mechanik des Geistes? Also: Vorwärts! 

   Hermann Burte beschließt seinen Brief:

Meine Bitte, als Ihres ehrlichen und dankbaren Freundes, der gerade dann, wenn Sie die leidenschaftlich gesuchte Verantwortung gefunden haben, Ihnen Dienste leisten kann, wie die Maus in der Fabel dem Löwen, ist nur die: Vergessen Sie im Glücke den altbadischen Dichtersmann nicht, der immer heimlich und öffentlich ist der Ihre.
Hermann Strübe
(Burte)
P.S. Dieser Brief ist zu lang; er soll aber nicht zum Barbierer mit irgend einem Barte sondern bleiben, wie er ist.

   Seine ebenso herzliche Antwort auf diesen Brief schrieb Walther Rathenau am 24. Januar 1915.

Version vom 17. 2. 2008

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(1) Alle erwähnten Briefe Rathenaus sind zu finden in: Walther Rathenau - Briefe. 1871-1913 / 1914-1922 (2 Bände), Herausgegeben von Alexander Jaser, Clemens Picht und Ernst Schulin. Düsseldorf 2006

(2) Erwiderung von Hermann Burte Strübe auf Anklagen, Vorwürfe und Beschuldigungen (1947), Hermann-Burte-Archiv, Maulburg

(3) Zitiert nach: Ulrike Falconer: Hermann Strübe (Dichtername ab 1905: Hermann Burte). Biografische Stoffsammlung in Bearbeitung ..., Word-Dokument im Hermann-Burte-Archiv, Maulburg

(4) Schreiben von Peter Philippen, Fraktion der Grünen, an den Kreisrat Breisgau-Hochschwarzwald, sieben Seiten, siehe auch Badische Zeitung, Breisgau-Hochschwarzwald, 27. 7. 1988