Dr Gipel vu dr Frächheit: d Nazi nänne ihre Kampfblatt "Der Alemanne" ...

Aus: Harald Noth: Alemannisches Dialekthandbuch vom Kaiserstuhl und seiner Umgebung. Freiburg 1993

„Alemannentum“ als nationalsozialistischer Etikettenschwindel

Das Alemannische war, wie wir nach den Bezeugungen von Hebel und Hansjakob sahen, zu einer verachteten Sprache geworden. Mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten sollte sich dies noch einmal ändern so wollte es die Propaganda wenigstens glauben machen. Das “Alemannentum“ wurde jetzt von oben, von Staats wegen beschworen. Franz Kerber, nationalsozialistischer Oberbürgermeister von Freiburg, sprach aus, was die Nazis von den Alemannen dabei erwarteten:

“Auch der äußerste Südwesten des Reiches hat eine ihm vom Schicksal zugewiesene Aufgabe, nämlich in seiner Art, in seiner geografischen und landschaftlichen Bedingtheit für das Dasein unseres Volkes und die Idee unseres Führers einzustehen mit all den Kräften, die hier das alemannische Volkstum hervorzubringen vermag.“ (Kerber, 1937)

Noch deutlicher schrieb er ein Jahr später im Jahrbuch der Stadt Freiburg‘:

“Diesseits des Rheines sind die Alemannen mit dem Schicksalskampf der deutschen Stämme verbunden geblieben, und sie sind stolz und glücklich, heute im Großdeutschen Reich an der Verwirklichung ihrer Hochziele mitschaffen zu dürfen. Im Hinblick auf die große Schicksalsverbundenheit der deutschen Nation gibt es keine Eigenbrötelei der Stämme mehr, mit den Friesen, Kärntnern, Sudetendeutschen und allen anderen Stämmen fühlen sie sich nur als Glieder der großen Nation, sie sind eins im Glauben, im Willen und in der Treue zu ihrem Führer.“ (Kerber, 1938)

“Frieden und Glück“ unter Führung der “nordischen Rasse“?

Die Beschwörung des Alemannentums durch die Nationalsozialisten rief bei den Nachfahren der Alamannen im Elsaß und in der Schweiz Angst und Bestürzung hervor. Diese Angst suchte man durch Garantieerklärungen auf die bestehenden Grenzen zu beschwichtigen, so Franz Kerber noch 1938, zwei Jahre vor der Besetzung des Elsaß durch die Wehrmacht:

“Gegenüber der Schweiz sind eindeutige Erklärungen abgegeben worden, die die Eigenständigkeit dieses Staates für die Zukunft gewährleisten. Frankreich gegenüber ist wiederholt feierlich und klar zum Ausdruck gebracht worden, daß nach der Rückgabe des Saargebiets territoriale Ansprüche nicht mehr bestehen. Das muß genügen. Führerworte wiegen schwerer als übliche Regierungserklärungen (...).“

Freilich wurde nicht verheimlicht, wie man sich den Frieden wünschte. Im selben Aufsatz schreibt Kerber:

“Unmöglich wird ein Geschlecht seinen Frieden finden und glücklich sein, wenn es die Bindungen seines Blutes, die Überlieferung und die Pflege seiner Kultur vergißt, oder wenn eine Regierung im Volkstumsdenken den Gegensatz zum Staatsdenken sieht.“ (Kerber, 1938)

Frieden und Glück konnten also nur sein, wenn die Elsässer die “Pflege ihrer Kultur“ nicht vergaßen und wenn die französische Regierung sie nicht daran hinderte.

Was heißt “Pflege der Kultur“? An die Adresse der Elsässer gerichtet, präzisiert Kerber, der “Heimat- und Volkstumspflege im oberrheinischen Grenzland“ lägen

“keine anderen Ideen oder Ziele zugrunde als jene, die schon lange von Natur aus vorhanden sind, die sich aus dem innersten Drang unseres Wesens, aus dem Bewußtsein der blutmäßigen und geistigen Zusammengehörigkeit aller Deutschstämmigen ergeben.“ (Kerber, 1938)

Was aber ist der “innerste Drang unseres Wesens“? Dieser Drang ist nach nationalsozialistischer Auffassung durch die rassische Abstammung bestimmt. Hier stellt sich die Frage: welcher Rasse gehört das Volk am Oberrhein an? Eugen Fischer schreibt 1938 im Jahrbuch der Stadt Freiburg:

“Rassenkundlich wird man mit völliger Sicherheit sagen können, daß der ganz überwiegende Bestandteil des Volk gewordenen Alemannentums im oberrheinischen Raum nordischer Rasse war.“

Was hat nun diese „nordische Rasse“ für einen „inneren Drang“? Als höchste Form der gesellschaftlichen Selbstverwirklichung der “nordischen Rasse“ wurde das nationalsozialistische System und sein Staat angesehen. Kerber spricht es in dieser Offenheit nicht aus, es ist aber zu erschließen: Der Nationalsozialismus wäre letztlich auch das “von Natur aus vorhandene Ziel“ des “alemannischen Volkstums“ und damit auch der “pflichtbewußten“ Elsässer und der (deutschsprachigen) Schweizer.

Man konnte sie drehen wie man wollte: In der Flasche mit dem Etikett “Alemannentum“ war immer nationalsozialistischer Machtanspruch drin. Wenn die Nazis von “Alemannentum“ sprachen, meinten sie nicht die real existierende Kultur der Alemannen, sondern sie meinten die nationalsozialistische Kultur. Die Bewohner des Oberrheingebiets wurden nur insoweit und insofern als wahre Erben der Alamannen, als “Träger nordischen Erbguts“ angesehen, als sie mitmarschierten, Fahnen schwenkten und sich die nationalsozialistische Sache zu eigen machten. Daher sagt Fischer auch nicht einfach “die Bewohner des Oberrheingebiets sind nordischer Rasse“, sondern er wählt die oben zitierte komplizierte Formulierung. Wir kommen weiter unten noch einmal auf “Erbgut“ oder “Erbleiden“ der Südbadener zurück.

Die Beschwörung des Alemannentums ließ erst 1940, nach der Besetzung des Elsaß wieder nach. Der Mohr Alemannentum hatte seine Schuldigkeit getan und konnte gehen. In den Vordergrund trat jetzt die Beschwörung des Deutschtums. Franz Kerber behauptete nun:

“Seit den Anfängen des ersten Jahrtausends geht der Pflug der Deutschen über das oberrheinische Land, das im weiten Rund umsäumt ist von den Bergketten des Schwarzwaldes, des Jura und der Vogesen.“ (Kerber, 1940)

Die Alamannen des ersten ‘Jahrtausends zu Deutschen zu erklären ist natürlich Geschichtsfälschung. Es gab damals noch keine Deutschen. Im Gegenteil: die Alamannen, die Sachsen und andere Stämme haben jahrhundertelang in blutigen Kämpfen mit der reichsbildenden Macht, den Franken, gelegen. Selbst für unser Jahrhundert ist es nicht richtig, die Elsässer oder die deutschsprachigen Schweizer als Deutsche zu bezeichnen. (Man bezeichnet ja auch die romanischen Schweizer oder die wallonischen Belgier nicht als Franzosen).

Das Alemannische - “sinnlos und schamlos gebraucht“

Wie standen nun die Nazis wirklich zur alemannischen Sprache? Hat die Beschwörung des Alemannentums durch die Partei der alemannischen Sprachpflege Auftrieb gegeben? Der wohl bekannteste alemannische Schriftsteller seiner Zeit, Hermann Burte, trat 1936 in die Partei ein. Nehmen wir ihn als Zeitzeugen. Der gebürtige Wiesentäler sagte im November 1940 in einer Rede im frisch besetzten Straßburg:

“Gerade in unseren Tagen erscheint Buch auf Buch über Alemannen und Alemannentum. Das Alemannische ist Mode geworden, und wird oft genug sinnlos und schamlos gebraucht für Dinge, die mit dem Wesen eines germanischen Kriegerbundes zur Landnahme - das waren die Alemannen - nichts zu tun haben!“

Es ist gut, daß Burte wenigstens die Namen dieser “Schamlosen“ nicht nannte und öffentlich denunzierte; heute wäre es freilich interessant zu wissen, wen und was er genau meinte. Vielleicht hat er die alemannische Sprach- und Geschichtsforschung gemeint, die versuchte, auch in dieser Zeit wissenschaftlich und ohne nationalistisches Gebrüll zu arbeiten.

An einer anderen Stelle seiner Rede geht Burte auf die Mundartdichtung ein und klagt:

“Eine verzichtende Zufriedenheit, eine bequeme Genügsamkeit, ein Verweilen und Behagen im Bürgerlichen, ja, im Spießigen und Spaßigen, die Scheu vor dem Zuendegehen, die Angst vor dem Gewaltigen und Dämonischen ist bezeichnend für die Mundartdichtung (...). Gar oft muß die heimatliche Sprache und ihr Raum als eine Art Fliehburg dienen, wohin man sich vor dem Großen und Ausgewachsenen, vor dem Großen des Ganzen, zurückzieht, um aus dem Ideale des allseitig entwickelten Nationalen in die Idylle des beschränkten Kantonalen zu flüchten!“

Alemannische Mundartdichter haben, so muß man diese Worte interpretieren, “gar oft“ am Nationalsozialismus und an der Großdeutschen Reichsidee vorbeigedichtet und sich auf das Heimatliche beschränkt. Doch nicht genug damit:

“Oder die Mundart muß gar dazu dienen, politische Ziele zu tarnen, von Dichtung zu reden, wenn Richtung gemeint ist, als Mittel des Widerstandes! Da muß es hart und klar gesagt werden: jeder Versuch, die alemannische Mundart als Waffe gegen die deutsche Sprache zu benützen, ist innerlich unwahr, äußerlich lächerlich und im ganzen: unwirksam!“

Die Einlassungen Burtes zeigen, daß die Partei mit den Alemannen, die sich in ihrer Sprache kulturell äußerten oder über das Alemannische schrieben, vielfach nicht zufrieden war. Der Vorwurf, daß mit der Mundart “politische Ziele“ verfolgt würden oder das Alemannische gar “als Waffe gegen die deutsche Sprache“ benützt würde, muß wohl hauptsächlich an die Elsässer gerichtet gewesen sein. Zu ehrerbietig, ja, zu unterwürfig ist das Verhältnis der Südbadener zu ihrer Staatssprache, als daß die Nazis sie hätten ermahnen müssen. Oder sollte ich mich da täuschen? Was Burte mißfiel, ist unter anderem, daß die Elsässer, deren (französische) Staatssprache verboten wurde, nicht auf die deutsche Staatssprache, sondern auf das Alemannische auswichen. Burte ermahnt sein Publikum in Straßburg denn auch ausdrücklich, auch hochdeutsch zu schreiben:

“Der wahre wesentliche Dichter (...) wird der Heimat geben, was der Heimat ist, in der Mundart, und dem Vaterlande, dem ganzen Volk, was des Reiches ist in der Sprache Luthers, Goethes, Bismarcks und Hitlers! Es wird nichts verdammt und nichts verboten, was des Volkes ist, im Gegenteil!“

Beschwichtigende Worte, daß etwas nicht verboten wird, sind nur notwendig, wenn tatsächlich eine Verbotsdrohung in der Luft liegt. Der letzte Satz im Zitat wird verständlicher, wenn man das Wort “des Volkes“ durch „Hitlers“ oder „der Partei“ ersetzt. Die Elsässer können auch weiterhin ohne Verbotsangst alemannisch schreiben, will Burte zu verstehen geben, wenn sie dabei nationalsozialistisches Gedankengut pflegen und auch nicht versäumen, in gebührender Häufigkeit den deutschen Führer und seine Politik auf hochdeutsch zu verherrlichen.

Zum Verständnis der Einlassungen Burtes ist es wichtig zu wissen, daß er keiner der schärfsten Einpeitscher war. In dieser Rede trug er unter anderem ein elsässisches Gedicht Stoskopfs vor (eines Verfassers von Mundartstücken, der bei der Partei als zersetzend galt). Unter den damaligen Umständen war dies ein Akt der Solidarität. (Auch zwei Dramen Burtes selbst waren mit Verbot belegt, sie hatten christliches Gedankengut zum Gegenstand). Die Ermahnungen Burtes an unpolitische, “politische“ und “schamlose“ alemannische Mundartschriftsteller und Autoren, die über das Alemannische schreiben, können den Zweck gehabt haben, noch Schlimmeres zu verhindern, noch schlimmeren Plänen der Partei zuvorzukommen.

[Diese Bemerkung schrieb ich mit meinem Wissensstand von 1993. Mehr zu Burtes Rede in Straßburg siehe hier in einem Artikel von 2013.]

Kuriosität am Rande: Anwürfe von der Art Burtes, die alemannische Mundartdichtung sei (einmal) zu kleinkariert, (das andere mal) zu politisch oder (das dritte mal) gar “gegen die deutsche Sprache“ gerichtet, sind auch nach dem Kriege nie verstummt. Besonders zur Zeit der “Mundartwelle“ in den 70‘er und in den ersten 80‘er Jahren wurden sie von selbsternannten Zensoren in den hochdeutschen Medien aufgewärmt, ja sie dienten sogar als Parolen im politischen Kleinkrieg alemannischer Wortführer und Schriftsteller untereinander. Sie sind wohl dazu verdammt, auch im neunten Jahrzehnt noch Dienst tun zu müssen.

Hier zeigt sich noch einmal die Minderberechtigung des Alemannischen nicht nur in den Hirnen von hochdeutschen Medienführern, sondern auch in den übernommenen und verinnerlichten Vorstellungen exponierter Alemannen aller Couleur:    Wenn einer im Alemannischen etwas “politisches“ oder unpolitisches sagt, wird er zweimal angegriffen: erstens wegen dem Inhalt und zweitens, weil er es auf Alemannisch tut. Wenn einer etwas auf Hochdeutsch sagt, wird er nie wegen der Sprache als solcher angegriffen, sondern immer nur wegen dem Inhalt. Doch zurück ins Tausendjährige Reich:

Das “Erbleiden“ der Alemannen

In seinem Roman ‘Wie die Würfel fallen‘ faßt André Weckmann die NS-Gewaltherrschaft in Elsaß-Lothringen von 1940 bis 1945 zusammen - und das ist kein Roman:

“Brutale Umschulung des ganzen Volks. Ausmerzung alles Französischen. 1940: Errichtung des Sicherheitslagers Schirmeck, 1941: des KZs Struthof. Bilanz: 145 000 Elsässer und Lothringer nach Frankreich ausgewiesen, 27 000 ins Altreich und nach Polen umgesiedelt, 20 000 Internierte und Deportierte, 140 000 Zwangseingezogene, davon 43 000 gefallen oder vermißt. 40 000 Fälle von Desertion und von Wehrpflichtentziehung durch Flucht nach Frankreich. Viele dieser Flüchtigen schließen sich der französischen Widerstandsbewegung an.

Daß die Alemannen im Elsaß und in der Schweiz die Nazis nicht wollten, steht außer Zweifel, doch wie stand es um die Alemannen im Badischen? Bei der letzten freien Wahl 1932 wählten die Badener in der Mehrheit nicht NSDAP (ein Ruhm, an dem zugegebenermaßen nicht alle Kaiserstühler Gemeinden teilhaben). Die Hitlerpartei kam im Juni 1932 in Baden auf ca. 34%. “Und selbst unter dem Regime Hitlers, nach vorhergegangener schwerster Bedrückung und Wahlbeeinflussung, Presseverbot, Verhaftung von Führern, Monopolisierung des Rundfunk und allem erdenklichen Zwang, (...) selbst im März 1933 waren es immer noch erst 627 000 Stimmen aus 1 379 000, die für das Hakenkreuz eintraten (...).“ (O. Feger, 1946)

Wenn aber der Nationalsozialismus als “Alemannentum“ etikettiert wurde, was für ein „-tum“ war es dann, wenn Alemannen den Nazismus ablehnten? Nun, dann war es der Erbeinfluß anderer Rassen. Die Rassenkundler, ob Nazis oder nicht, mußten natürlich eingestehen, daß die heutigen Alemannen auch andere als germanisch-suebische Vorfahren haben. Johannes Schaeuble etwa spricht (1938) von den Alemannen als im wesentlichen einer “Kreuzung“ dreier Rassen, der “nordischen“, der “dinarischen“ und der “alpinen“. Der “alpine“ und “dinarische“ Anteil sei durch die voralamannische Urbevölkerung und durch mittelalterliche und neuzeitliche Zuwanderung eingebracht worden.

Wie ist da die “Eigenbrötelei“ der Alemannen oder wenigstens eines Teils von ihnen zu verstehen? Nur als “Erbleiden“, als ein Erbeinfluß der beiden letztgenannten Rassen.

Der Verweis auf die nichtgermanischen Vorfahren der heutigen Alemannen war ein Einschüchterungsmittel der Nazis; zudem diente er als Begründung der Führungsbedürftigkeit der Alemannen. Zur Führung befähigt sei nämlich allein die “nordische Rasse“. Als die reinblütigsten Abkömmlinge der “nordischen Rasse“ aber sah man Bewohner Norddeutschlands an. Für die Führung der Alemannen durch die Letztgenannten wurde denn auch gesorgt. Otto Feger spricht von einer “zunehmenden Verpreußung der maßgeblichen Dienststellen“ im Nationalsozialismus. Er fährt fort:

“Begreiflicherweise existiert hierüber noch kein Zahlenmaterial; aber eine Zusammenstellung der aus dem Norden und dem Osten stammenden Bürgermeister und Kreisleiter, vor allem aber des hauptamtlich in der Partei tätigen Personals, der Parteizeitungen, der höheren Leitungen der Wehrformationen (SA., NSKK. usw.) würde wahrscheinlich erstaunliche Zahlen aufweisen. Für die SS. und Gestapo verstand sich dies ohnehin von selbst.“

So schrieb Otto Feger 1946 in seinem (ebenfalls begreiflicherweise) umstrittenen Buch ‚Schwäbisch-Alemannische Demokratie’. Das Zahlenmaterial liegt wohl bis heute noch nicht vor.

Diese Feststellungen sollen nicht die tatsächliche Unterstützung auch eines Teils der Alemannen für den Nationalsozialismus wegreden; sie stellen auch keinen Versuch dar, diese Unterstützung zu ergründen und zu beurteilen. Es soll aber unterstrichen werden, daß Nationalsozialismus und Alemannentum von der Tradition her unvereinbar sind.

Die Alamannen und der Staat

Die Alamannen haben in ihrer Geschichte bei sich selbst vielleicht nie zentralistische Machtstrukturen entwickelt und haben auch nicht gewünscht, in solche einbezogen zu werden. Das einzige Staatswesen, in dem die Alamannen und ihre Nachfahren jemals eine bestimmende Stellung hatten, ist die Schweiz. Dort konnten schon im Spätmittelalter demokratische Strukturen entstehen. Das betrifft sowohl das Verhältnis der Kantone untereinander als auch - je nach Zeit und Ort mehr oder weniger ausgeprägt - die Verhältnisse im Innern der Kantone. Die demokratischen Strukturen mußten und konnten über Jahrhunderte hinweg durch Volksbewegungen behauptet oder erneuert werden - ein einmaliger Vorgang in Europa. Auch in der Neuzeit ist das besondere Merkmal der Schweiz das Bundessystem, die Dezentralität geblieben; die einzelnen Kantone besitzen bis heute ein hohes Maß an innerer Selbständigkeit. In der Schweiz lebten und leben vier Sprachgruppen (die alemannische, die französische, die italienische und die rätoromanische) demokratisch zusammen. Das gewaltlose und (im internationalen Vergleich gesehen) konfliktarme Zusammenleben der Schweizer Sprachgruppen macht sie zu einer Weltseltenheit. Die Ordnung der Alemannen und ihrer romanischen Bundesgenossen in der Schweiz ist der “Idee unseres Führers“ völlig entgegengesetzt.

Wie die Alamannen nie einen eigenen Staat hatten, haben sie (von der Zeit der Landnahme abgesehen) auch nie fremde Länder erobert, es sei denn als Söldner fremder Herren. Wohl waren auch die Eidgenossen in innere und äußere Kriege verstrickt, doch verfolgen sie seit 1516, spätestens aber seit 1536 eine Neutralitätspolitik und lehnen Machtpolitik und Eroberung ab. Auch dies ein einmaliger Vorgang in Europa.

Die Geschichte der Alamannen und auch ihrer Nachkommen zeigt über weite Strecken, daß sie weder durch andere germanische oder deutsche Stämme beherrscht sein wollten noch durch fremde wirtschaftliche, politische und militärische Machtzentren. Selbst eigene Stammesbrüder aus entfernten Teilen des Stammesgebiets wollen die Alemannen nicht als Herren haben: Dies zeigte sich auch nach 1945 noch einmal, als eine deutliche Mehrheit der südbadischen Bevölkerung gegen die Vereinigung Badens mit Württemberg zu einem einheitlichen Bundesland stimmte (in der sogenannten Volksabstimmung 1952).

Wenn „die Alemannen“ in Baden „sich nur als Glieder der großen Nation“ gefühlt hätten und mit den anderen Stämmen „eins im Glauben, im Willen und in der Treue zu ihrem Führer“ gewesen wären, hätte das mehr auf die Verendung des Alemannentums hingedeutet als auf seine Vollendung. Die Alemannen haben diesem Wunschbild Kerbers aber nur zum Teil entsprochen.

Schein und Sein

Wie ist nun das Alemannentum, die Kultur der Alemannen, nach dem Etikettenschwindel, den die Nazis damit betrieben haben, zu beurteilen?

Ein solcher Etikettenschwindel ist leider kaum zu verhindern. Das ‘Kampfblatt der Nationalsozialisten Oberbadens‘ trug zum Beispiel den Namen ‘Der Alemanne‘. Es hätte auch “Arbeiter- und Bauernblatt“, “Der Oberbadener“, oder sonstwie heißen können, die Arbeiter, Bauern oder Oberbadener hätten den Namen des Kampfblatts kaum ändern können. Bis in unsere heutigen Tage wird Etikettenschwindel ja auch mit allen anderen weltanschaulichen und politischen Begriffen getrieben, also etwa mit den Begriffen Christentum, Demokratie, Freiheit, Frieden, Sozialismus, Volk usw. Sind diese Dinge deswegen schlecht?

Wenn Begriffe mißbraucht werden, stehen immer zwei Wege offen. Der erste und mühsame Weg ist, die Werte zu verteidigen, die diese Begriffe beinhalten. Der zweite und einfache: sich von den Werten abzuwenden, die diese Begriffe beinhalten. Wenn durch die große  Politik die Begriffe nicht mißbraucht würden, stünde mancher kleine Läufer betreten da: Ihm fehlte Vorwand und Ausrede, sich von diesen Werten abzuwenden.

Im Endergebnis war der Nationalsozialismus für die regionale Kultur am Oberrhein verheerend. Der Dialekt wurde kaum gefördert. Die geduldete dialektologische Arbeit Maurers und anderer Sprachwissenschaftler ist auszunehmen. Alemannische literarische Werke sind nicht entstanden oder zumindest nicht bekannt geworden - nicht einmal solche nationalsozialistischen Inhalts. Selbst einem Hermann Burte versiegte im Dritten Reich die alemannische Feder. Er brachte in der Nazizeit so gut wie nichts im Dialekt hervor. [Bemerkung von 2013: Davon ist das große alemannische Gedicht "Hebel rassisch!" auszunehmen, in dem Burte die nationalsozialistische Rassenlehre auf den Arm nimmt. Es erschien allerdings nur in der marginalen Zeitschrift "Markgräfler Jahrbuch" (1940/41)]

Mehr zu Hermann Burte: Das Hermann-Burte-Portal.

Auch das Parteiblatt gab sich kaum mit Dialekt ab: Um im ‘Alemanne‘ einmal etwas Alemannisches zu finden, muß man meist die Ausgaben mehrerer Wochen durchsuchen. In manchen Jahrgängen gibt es buchstäblich nichts. Im Vergleich dazu schneidet die (ansonsten nicht vergleichbare) Badische Zeitung mit ihrer wöchentlichen Kolumne des ‘Dengelegeischt‘ geradezu gut ab.

Die Aufwertung des Alemannischen, so scheint es, ist aus der Propaganda nicht ins tägliche Leben übergesprungen. Aus einem Freiburger Gymnasium etwa wird berichtet, daß Schüler aus den umliegenden Dörfern auch 1937 und später kaum den Mund zu öffnen wagten. Schon in der ersten Stunde, wenn der Lehrer nach Name und Wohnort fragte, lachte die Klasse, wenn einer Schupfholz oder sonst ein Dorf angab. (Der Hochmut der Städter gegenüber dem Alemannischen auf dem Land erhielt offenbar erst nach dem Krieg einem Dämpfer, als sie in die Dörfer kamen und um Lebensmittel bettelten. Jetzt war ihnen ein einziger Hárdebfel mehr Wert als fehlende zehn Kartoffeln.)

Doch im Nachhinein zählt der Schein und nicht das Sein. Durch den nationalsozialistischen Mißbrauch kam die regionale Kultur am Oberrhein nicht anders als in anderen Landschaften in Verruf und man verruft sie bis in die heutigen Tage. (Siehe auch S. 231 und S. 279ff). Nach dem Zusammenbruch des Nationalsozialismus konnte es so zu jener kulturellen Flurbereinigung Deutschlands (und des Elsaß) kommen, die die wirtschaftlichen und politischen Entwicklungen bis hin zum europäischen Binnenmarkt erst ermöglichte. Diese kulturelle Flurbereinigung ist immer noch im Gang und ist nur schlecht getarnt durch das Schlagwort der ‘multikulturellen Gesellschaft‘. Hinter den Kulissen der angepriesenen multikulturellen Gesellschaft erblicken wir die absolute Vorherrschaft des “hochsprachlichen“ Kulturfelds, die ernsthaft nur durch den Import der anglo-amerikanischen Kultur und ihre Nachäffung relativiert wird.

Die “Hochsprache“ hat den Faschismus unbeschadet überlebt. Die regionalen Sprachen und Kulturen müssen bis zum vielleicht nahen Ende ihrer Tage ein folkloristisches Randdasein fristen.

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