Alemannisches Dialekthandbuch vom Kaiserstuhl und seiner Umgebung Alemannisch als höfische Literatursprache Die
Begriffe Mittelhochdeutsch und Mittelzeitalemannisch Im 12. und 13. Jahrhundert erlebte das Alemannische an den Fürstenhöfen eine literarische Blüte. Als ein alemannisches Literaturzeugnis dieser Zeit wählen wir das bekannte Epos "Der arme Heinrich" aus. Es entstand zur Zeit des Stauferkaisers Friedrich Barbarossa (Ende 12. Jh.); sein Verfasser ist Hartmann von Aue ('Owe'), ein alamannischer Ritter. Aus diesem Werk Hartmanns seien hier einige Zeilen zitiert. Unser Beispieltext ist freilich nicht aus Hartmanns eigener Niederschrift; diese ist nicht erhalten. Wir stützen uns auf die als am zuverlässigsten geltenden Abschrift, die sogenannte "Straßburger Handschrift" nach der Ausgabe E. Gierachs und übersetzen - ohne Rücksicht auf den Stil - Wort für Wort. Hartmann von Aue unterbreitet mit seinem "Armen Heinrich" der höfischen Gesellschaft eine Geschichte, die moralisch erbauen soll. Es geht um folgendes: Ein Bauernmädchen pflegt den unheilbar kranken Ritter Heinrich und verliebt sich in ihn. Ein berühmter Arzt offenbart dem Ritter, das einzige Heilmittel gegen seine Krankheit sei das Herzblut einer Jungfrau. Das Mädchen erfährt es; um ihn von seinem Siechtum zu retten, will es sein Blut für ihn vergießen. Die
Jungfrau gesteht nun ihren Eltern, daß sie sich für Heinrich opfern
will. Der Vater ist über dieses Geständnis nicht begeistert und
gebietet seiner Tochter:
Die
Tochter läßt sich aber nicht zum Schweigen bringen und versucht mit
einer List, Zustimmung zu ihrem Sterbenswunsch zu erhalten. Ein
"frier buman" zu sein galt damals, wenigstens auf dem Papier,
als eine ehrenhafte Sache. Von einem solchen "buman" werde ich
umworben, behauptet die Tochter:
Welche Eltern würden einen solchen Schwiegersohn nicht schätzen? Mit diesem Bräutigam meint sie aber niemand anders als Jesus Christus, mit dem sie sich im Tod vereinigen will ... Die dichterische Sprache Hartmanns und anderer höfischer Dichter meidet bewußt regionale Sonderausdrücke und -formen, die in anderen Landschaften nicht verstanden werden. Viele Sprachwissenschaftler meinen, Hartmann verrate durch seine Sprache seinen Herkunftsort in Alemannien nicht. Da auch andere Anhaltspunkte spärlich sind, hat die Forschung einige Mühe, zu klären, aus welchem Teil Alamanniens Hartmann eigentlich stammt. Eines der in Frage kommenden 'Owe' ist Au bei Freiburg. C. Cormeau und W. Strömer halten dieses Au für den wahrscheinlichsten Herkunfts- und Wirkungsort Hartmanns; er hätte dann für den zähringischen Hof geschrieben. Dieses "bereinigte" Alemannisch etwa von Hartmann von Aue oder von Gottfried von Strassburg hatte eine Vorbildfunktion für die Dichter anderer Reichsteile; Bruno Boesch schreibt, "(...) dieser führenden Form eines gepflegten Deutsch hatten sich auch die Dichter anderer Landschaften anzupassen, wenn sie auf der Höhe der Zeit sein wollten." Unser Beispieltext von Hartmann ist als zweifach "bereinigtes" Alemannisch anzusehen. Erstens durch Hartmann selbst, zweitens durch die mittelalterlichen Schreiber - in die Neuzeit erhalten hat sich nicht die Originalhandschrift, sondern Abschriften. So wäre auch denkbar, daß die offensichtlichen oberrheinischen Einschläge nicht durch Hartmann selbst in den Text gelangt sind, sondern durch einen oberrheinischen Schreiber. Man nimmt an, daß die hier zitierte Straßburger Handschrift im 14. Jahrhundert entstanden ist; Jacob Grimm ordnet sie schon dem 13. Jahrhundert zu. Trotz aller Bereinigung: man findet in diesem wie auch in anderen mittelhochdeutschen Texten viele Ausdrücke und Formen, die in nur wenig veränderter Form auch im heutigen Kaiserstühler Alemannisch vorkommen. Im Zitat fallen etwa 'tuo zuo' (duá zuá), 'dinen' (diiná), 'lut' (lüd), 'hut' (Hüd), 'pfluog' (Bfluág) und neben 'geben' die gleichbedeutende Kurzform 'gan' (gáá) auf. Das r-lose 'me' entspricht unserem meh (mehr), 'iemer me' bedeutet das Gegenteil von niä meh (nie mehr). Interessanterweise kommt auch 'got' und 'get' vor, gohd ist an den meisten Orten am Kaiserstuhl und im ganzen übrigen Breisgau verbreitet, in wenigen Orten aber stattdessen gehd (vgl. Karte 9, S. 22 und Karte 22, S. 294). Im Elsaß herrscht gehd vor. An hier nicht zitierten Stellen des Hartmanntextes steht auch das ältere 'gat'. Die Ähnlichkeit der Sprache Hartmanns mit dem heutigen Markgräflerischen und mit Schwarzwälder Mundarten deucht einem noch größer als die mit dem heutigen Kaiserstühlerischen, denn sie sind lautlich auf einem älteren Stand geblieben. Wie sich das Kaiserstühlerische (mit dem Elsässischen) von diesem altertümlichen Alemannisch wegentwickelt hat, sehen wir im Abschnitt "Das Kaiserstühlerische erhält seine heutige Gestalt".
Die
Begriffe 'Mittelhochdeutsch' und 'Mittelzeitalemannisch' Im 19. Jahrhundert fing man an, die Werke der mittelhochdeutschen Dichter neu zu veröffentlichen und mittelhochdeutsche Wörterbücher zu erstellen. Dabei wurden die überlieferten Texte der dichterischen Werke 'normalisiert', das heißt, die Wortformen und Laute vereinheitlicht und zwar auf oberdeutscher Grundlage. Der Gesamtwortschatz wurde in vielen Nachschlagwerken einfach alphabetisch geordnet, ohne zu vermerken, aus welchem Dialektgebiet welches Wort stammt. Diese normalisierten Textausgaben und Wörterbücher sind bis heute an Schulen und Universitäten verbreitet. Zwei Beispiele zur Verdeutlichung der Normalisierung: *In den normalisierten Hartmannausgaben lesen wir in sîner jugent'. Doch damit ist der Blick verstellt für eine Dialektbesonderheit, die wir auch am Kaiserstuhl und in der Umgebung finden. In der Straßburger Handschrift heißt es nämlich 'in sinre iugent', also ganz ähnlich wie am Kaiserstuhl, wo man ín sinerá Jugend sagt. *Das am Kaiserstuhl gebräuchliche áschá (Asche) läßt vermuten, daß es, wie bei vielen anderen Wörtern mit á‚ einen Vorläufer mit e gab. Diesen Vorläufer ('eschen') finden wir tatsächlich im nicht normalisierten Text (Straßburger Handschrift). In den normalisierten Ausgaben dagegen heißt es überall 'aschen'. Der Begriff 'Mittelhochdeutsch' und die nachträgliche Normalisierung des Sprachmaterials verführen dazu, anzunehmen, daß es im Hochmittelalter ein einheitliches Deutsch oder Ansätze dazu gegeben habe. Tatsächlich war die gesprochene Sprache jener Zeit der jeweilige Stammesdialekt, der wohl schon überall auch landschaftliche Sonderformen aufwies. Die dichterischen Werke lassen sich fast immer einem bestimmten Stammesdialekt zuordnen. Die dichtenden Ritter selbst scheinen auch in der höfischen Umgebung nicht eine "mittelhochdeutsche Gemeinsprache" gesprochen zu haben, sondern weitgehend den jeweiligen Dialekt, wie ihn auch das Volk sprach. Herbert Penzl schreibt:
Die Sprache der Dokumente und des Schriftverkehrs war im übrigen noch ganz überwiegend Latein. Wir wollen, wenn wir vom Alemannischen des hohen Mittelalters sprechen, uns nicht immer den Begriff Mittelhochdeutsch aufzwingen lassen, der von der Sprachwissenschaft des werdenden deutschen Nationalstaats eingeführt wurde. Ein Mensch will ja auch nicht immer Mensch genannt sein, auch wenn er einer ist. Er ist ja auch noch Hindu, Moslem oder Christ, Russe oder Litauer, Alemanne oder Bayer - es gibt Gelegenheiten, wo dies einfach gesagt werden muß. Und so soll auch das Alemannische des Hochmittelalters nicht immer vom Begriff Mittelhochdeutsch vereinnahmt oder hinter ihm versteckt werden. Wir führen daher - für den Zeitraum des Mittelhochdeutschen - den Unterbegriff "Mittelzeitalemannisch' ein.
Aus
mittelhochdeutschem (mittelzeitalemannischem) Sprachgut In den mittelhochdeutschen Wörterbüchern finden wir Erklärungen für zahlreiche Wörter, die im modernen Kaiserstühler Alemannisch noch gebräuchlich sind, die aber im Hochdeutschen fehlen. Diese Wörter dürften schon im Hochmittelalter am Oberrhein und in weiteren Teilen des alemannischen Sprachgebiets verbreitet gewesen sein, dieses oder jenes auch in anderen Dialektgebieten. Hier nur wenige Beispiele: *
'sehselin' bedeutet eine 'kleine Ausführung eines langen Messers oder
eines kurzen Schwerts'. Am Kaiserstuhl lebt das 'sehselin' als Sááslí
weiter, es ist ein keineswegs kleines Haumesser mit gekrümmter Schneide
zum Anspitzen von Rebstecken (H. C. Höfflin). *
Mit ghäiá (hinfallen) hat sich ein altes Wort gehalten, das
auch in anderen Zusammensetzungen vorkommt: á Schíssílí vrhäiá
(eine Tasse kaputtmachen, zerbrechen). Dieses Wort steht als 'gehîwen'
oder 'gehîen'
in Lexers Mittelhochdeutschem Handwörterbuch (î
= ii). Es ist mit 'sich vermählen, sich paaren' übersetzt. Was hat
'heiraten' mit 'fallen' zu tun?! Nun, das Wort muß einen
Bedeutungswandel zum Negativen durchgemacht haben und dann zunächst
'verderbend beschlafen, vergewaltigen' bedeutet haben. An diese
Bedeutung erinnert noch unmittelbarer die Redensart loss-mi umghäid!
(Betonung nicht auf um, sondern auf ghäid), das
bedeutet, 'laß mich in Ruhe', 'mute mir das nicht zu' ("laß mich
unvergewaltigt!"). Der Bedeutungswandel ging also von 'heiraten' über
'vergewaltigen' zu' hinwerfen' und 'fallen'. *
In der Zeit vor den Rebumlegungen fast überall und an einigen Stellen
auch heute noch gelangte und gelangt man in ein höher oder tiefer
gelegenes Rebstück über ein Bfáádlí oder Wááglí.
Selbst manch alter Kaiserstühler verwundert sich, wenn er Schluggá
für diesen schmalen Pfad zum Rebstück hört. Nach H. C. Höfflin ist
das Wort in vier Ortschaften gängig. In Ihringen bedeutet es das
gleiche wie Bfáádlí. In Endingen meint man damit 'Fußpfad mit
aus Löß gehauenen Stufen'. In Bahlingen: 'steile Auffahrt von der
Hohlgasse in den Rebberg'. In Amoltern bedeutet Schluggá
'Verbreiterung im Weg zum Abstellen der Wagen, zum Ausweichen und zum
Wenden' (H. C. Höfflin). * In Wasenweiler und am ganzen Tuniberg sagt man nach Höfflin das urtümliche Wort Rííslá für den 'Fußpfad, der vom Weg oder der Hohlgasse zum Rebstück führt'. Das Zeitwort, woraus Rííslá abgeleitet ist, lautete im Hochmittelalter 'riisen' (von unten nach oben sich bewegen, steigen, sich erheben). Im Germanischen hieß es dem Etymologischen Wörterbuch zufolge 'riisan', daher kommt auch das gleichbedeutende englische '(to) rise'. Deutsche Verwandte sind 'rieseln' und 'reisen'. |